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Archiv-Artikel

Krieg um Kleinigkeiten

Nur weg von zu Hause! Nadja, Britta und Nicole sind abgehauen. Doch was nun? Protokolle aus einer Mädchenzuflucht in Dresden

VON CLAUDIA HEMPEL

Nadja, 15 Jahre

Nadja spielt verlegen am Verschluss einer Wasserflasche. Das scheint nicht nur Nervosität zu sein, sondern auch ein willkommener Grund, meinem Blick auszuweichen. Plötzlich platzt es aus ihr heraus: „Ich fange an, dann habe ich es hinter mir.“ Sie beginnt recht stockend zu erzählen. Streckenweise gleicht unser Gespräch einem Kampf, jedes Wort muss ich mir mühsam erringen, und ich frage mich mehrmals, warum Nadja dieses Interview machen wollte, wenn sie jetzt kaum einen vollständigen Satz spricht. Später werde ich mühevoll ihre Gedankenbrocken ordnen, und erst beim Aufschreiben ergeben sich Sinnzusammenhänge, die mir während des Interviews zwischen den vielen Pausen, Wiederholungen und genuschelten Satzfetzen verborgen geblieben waren.

Seit fünf Tagen bin ich hier. Die Sozialarbeiterin aus unserer Schule kannte die Mädchenzuflucht, und sie hat für mich hier angerufen. Eine Betreuerin hat mich bei der Polizei abgeholt, denn zu Hause hatte ich gerade totalen Streit. Meine Lehrerin hat mir geraten, Anzeige zu erstatten. Das habe ich auch gemacht, wegen Körperverletzung – gegen meine Mutter und meinen Stiefvater. Seit vier Jahren ist meine Mutter mit meinem Stiefvater zusammen. Ich konnte ihn von Anfang an nicht leiden, wir hatten schon immer ein beschissenes Verhältnis.

Mein Stiefvater kommt aus dem Westen, am Anfang ist er immer nur tageweise gekommen, aber vor drei Jahren sind sie richtig zusammengezogen. Am meisten stört mich, dass er immer so einen herablassenden Ton hat; der steht vor mir, die Hände in die Hüften gestützt, und sagt: „Mach dies! Mach das! Beeil dich gefälligst!“ Ich springe da nicht, wenn jemand so mit mir spricht. Das würde keiner machen.

Früher, als ich mit meiner Mutter noch allein lebte, war es eigentlich am schönsten. Wir haben uns zwar auch manchmal gestritten, und sie hat rumgemeckert, wenn ich irgendwas nicht gemacht habe, aber danach war alles wieder gut. Einmal war ich mit meiner Mutter sogar im Urlaub in Bulgarien – nur wir zwei, das war herrlich!

Als sich meine Eltern getrennt haben, war ich sehr traurig. Ich war damals zehn und mein Bruder sechzehn. Ich habe meinen Bruder sehr gern. Wenn einer von uns beiden Scheiße gebaut hat, dann hat es der andere nie verraten. Ich habe immer gedacht, meine Eltern trennen sich nie. Aber irgendwann gab es einen Riesenkrach, und danach haben sie gesagt, sie trennen sich. Leider ist kurz darauf mein Bruder auch noch ausgezogen. Er musste weg, weil er hier keine Lehrstelle bekommen hat. Deshalb ist er nach Bayern gezogen und hat dort Koch gelernt.

Es hat überhaupt keinen Sinn, mit meiner Mutter zu reden, weil ständig mein Stiefvater reinredet. Ich habe es einmal versucht, und sie hat ihm danach alles erzählt. Irgendwann habe ich aufgegeben. Mein Stiefvater weiß alles besser – egal worum es geht. Und meine Mutter hört auf alles, was er sagt, die glaubt das auch alles. Mein Stiefvater hat keine eigenen Kinder, er versucht es nun an mir, mich zu erziehen. Aber ich war schließlich zwölf, als er kam. Da braucht man nicht mehr anzufangen, jemanden umzuerziehen.

Bei uns zu Hause darf ich nicht in die Stube und nicht ins Büro. Die Zimmer sind verschlossen. Sie sagen, ich würde rumschnüffeln. Ich darf die Stube nur betreten, wenn sie es mir erlauben. Das war schon früher so, als ich mit meiner Mutter noch allein gewohnt habe. Ich habe damals wirklich in ihren Sachen gewühlt, vor meinem Geburtstag oder vor Weihnachten habe ich immer die Geschenke gesucht. Aber sie hat gesagt, ich wolle sie nur ausspionieren, und war furchtbar wütend. Dann hat sie gesagt, ich würde sowieso zu viel fernsehen, seitdem hat sie abgeschlossen.

Ich bekomme überhaupt kein Taschengeld. Wenn ich gefragt habe, hieß es immer: Nein. Meine Eltern haben so ausländische Euros gesammelt, die habe ich mir genommen. Irgendwann haben sie es gemerkt. Ich habe ihnen gesagt: „Ich hätte es ja nicht gemacht, wenn ich Geld kriegen würde.“ Da hat mich meine Mutter angeschrien, ich solle gefälligst arbeiten gehen, dann hätte ich Geld. Selbst als ich vor zwei Jahren mit meinem Chor in Südafrika war, hat mir meine Mutter nichts dazugegeben. Alle anderen haben die Reise von ihren Eltern bezahlt bekommen, nur ich nicht. Ich wollte aber unbedingt mit, und das hat 800 Euro gekostet. Da habe ich alles Geld zusammengekratzt, was ich zur Jugendweihe und vorher mal von meinen Großeltern bekommen habe. Meine Mutter hat mir noch 40 Euro dazugegeben, weil es nicht ganz reichte – aber nur geborgt.

Als wir uns wegen des Geldes gestritten haben, wurde alles immer schlimmer. Mein Stiefvater hat mich in die Ecke gedrängt und zusammengeschlagen. Meine Mutter ist noch dazwischengegangen, da hat er irgendwann aufgehört zu schlagen. Sie hat das nur gemacht, weil sie nicht wollte, dass er vor Gericht muss. Danach hat er noch gesagt, am liebsten würde er das Fenster aufreißen und mich rausschmeißen, und wenn er dafür in den Knast käme, das wäre ihm egal. Zehn Minuten vorher hatte meine Mutter mir ein Buch über den Kopf gezogen. Ich hatte ein paar blaue Flecken, und weil ich nicht mehr weiterwusste und nur geheult habe, bin ich zur Sozialarbeiterin.

Ich habe im Chor auch ein paar Leuten erzählt, dass ich jetzt hier in der Mädchenzuflucht bin. Die stehen alle hinter mir. Auch Doreen, unsere Chorleiterin, hat mich sehr unterstützt. Sie hat selbst so was durchgemacht. Wenn irgendwas zu Hause war, dann hat sie Chorverbot bekommen – genau wie ich –, das hat bei ihr auch gezogen, sagt sie. Sie hat sogar gesagt, sie zieht den Hut vor mir, dass ich so einen großen Schritt gewagt habe.

Britta, 16 Jahre

Britta rutscht schon die ganze Zeit auf dem Sofa hin und her. Eine knappe Stunde habe ich mit Nadja gesprochen, das lange Warten ist eine Strapaze für ihre Konzentrationsfähigkeit. „Geht das jetzt auch so lange? Ich habe noch einen Gesprächstermin bei der Betreuerin. Spätestens um 12 muss ich weg.“ Was sie nicht verrät, ist, dass die Betreuerin ihr gesagt hat, sie könne so lange mit mir reden, wie wir brauchen. Aber mir wurde auch gesagt, dass Nadja sofort zugesagt habe, das Interview zu machen. Die Leiterin erklärt mir später, dass dieses Verhalten typisch für die Mädchen hier ist – unbekannte Situationen aushalten, das kann fast keine, denn das setzt Vertrauen voraus. Im Gegensatz zu Nadja sprudelt Britta sofort los.

Als ich abgehauen bin, habe ich das so unauffällig gemacht, wie es ging. Ich habe meinen Rucksack gepackt und durch das Fenster auf den Hof geschmissen. Dann bin ich mit dem Hund runter und bin halt nicht wiedergekommen. Mein Handy habe ich auf Rufumleitung gestellt, auf eine fremde Nummer. Da hat meine Mutter mir die Polizei auf den Hals gehetzt. Abends hat ein Kumpel angerufen, dass mein Stiefvater angeblich eine Anzeige gegen meinen Freund aufgegeben hätte, wegen Entführung. Da habe ich mir gedacht: Ich gehe jetzt nach Hause und erkläre, warum ich abgehauen bin. Kaum stand ich vor dem Haus, kam schon die Polizei und wollte mich hoch zur Wohnung bringen. Ich habe den Beamten gesagt: „Kommen Sie einfach mit, dann wissen Sie, warum ich gegangen bin.“

Als die Polizisten dann mit oben waren, haben sie mir selbst geraten, dass ich gehen soll. Unsere Wohnung ist sehr dreckig, denn wir haben viele Tiere. Eine Dreiraumwohnung mit so vielen Tieren, die stinkt auch. Wir haben 3 Hunde, 5 Katzen, 10 Vögel, einen Chinchilla, 2 Hasen, 3 Meerschweinchen und dann noch die Fische. Ich habe immer gesagt, die Hunde sind okay, ich gehe auch gern mit denen raus. Bei den Katzen und den Vögeln wurde es mir aber schon ein bisschen zu viel. Meine Mutter hat ja nur noch Geld für Vögel ausgegeben, und ich habe keinen Cent Taschengeld bekommen. Sie hat sich ständig neue Vögel geleistet! So viel Geld haben wir auch nicht, dass wir uns das eigentlich leisten können. Ich habe nicht einmal unregelmäßig etwas zu essen bekommen. Dadurch habe ich mit dem Kreislauf Probleme gekriegt.

Eigentlich wollte ich schon viel eher von zu Hause weg, aber ich hatte zu viel Schiss. Meine Mutter hat mich zwar nie geschlagen, aber oft angebrüllt. Ich war ja auch schon mal vor zwei Jahren auf dem Jugendamt, weil ich mit der Situation zu Hause nicht klargekommen bin. Die haben dann meiner Mutter geschrieben. Als der Brief kam, ist sie völlig ausgerastet. Sie hat mich angebrüllt: Wenn ich jetzt ausziehen würde, dann wäre ich für sie als Tochter gestorben. Ich habe mich damals erpressen lassen und bin geblieben. An dem Tag, als ich weggelaufen bin, ist mir das alles egal gewesen. Ich habe mir gesagt, wenn sie es wieder sagt, dann kann ich es nicht ändern. Ich werde trotzdem gehen.

Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag: Es war vereinbart, dass ich abends zu meinem Freund gehe und dort übernachte. Ich bin also nach der Schule nach Hause gekommen, habe meine Zeitungen ausgetragen und gesagt, dass ich mit dem Hund rausgehe. Da sagte meine Mutter: „Du hast hier noch zu tun.“ Da habe ich gesagt: „Gestern wurde besprochen, dass ich, wenn ich mit der Zeitung fertig bin, raus darf.“ Ich hatte mich schon mit einer Freundin verabredet. Doch als schon wieder der Streit losging, bin ich weg.

Selbst von dem Geld, das ich mir verdient habe, durch Zeitungaustragen und so, habe ich nicht alles behalten dürfen. Maximal 50 Euro haben mir meine Eltern von dem Geld gegeben, das war genau die Hälfte. Von den 50 Euro musste ich aber meine Fahrkarten bezahlen, und dann musste ich noch 20 Euro davon an eine Freundin geben, weil sie mir immer geholfen hat. Der Rest war dann für mich – maximal 3 oder 4 Euro, das war’s. Aber für die Tiere ist immer Geld da!

Das Problem ist, die beiden sitzen den ganzen Tag vorm Fernseher und machen gar nichts. Wenn ich dann von der Schule komme, soll ich alles machen, die Küche putzen, die Wohnung aufräumen, das Essen kochen … Ich hätte mir gewünscht, sie sagen: „Mach erst mal deine Hausaufgaben. Oder ruh dich aus.“ Das kam aber nie. Ich hatte auch tierisch viel Stress mit der Schule. Jeden Tag haben mich meine Mitschüler gehänselt: „Ach, der Stinki kommt wieder!“ So ging das die ganze Zeit. Wenn es Gruppenarbeiten gab, wollte nie jemand mit mir zusammenarbeiten. Ich habe dann einfach die Schule geschwänzt. In der Zeit hat mir meine Mutter noch Stubenarrest gegeben – zehn Wochen lang. Sie hat mir auch verboten, zu meinem Freund zu gehen. Gut, ich sehe ein, dass ich Mist gebaut habe. Ich war damals auf dem Weinfest in Radebeul und sollte eigentlich um elf zurück sein. Ich wollte aber mit einer Freundin wieder nach Hause fahren, und wir haben dann ein bisschen die Zeit vergessen. Ich war erst halb eins wieder zu Hause, bin aber erst um halb zwei hochgegangen, weil ich noch mit meinem Freund zusammen sein wollte. Deswegen habe ich Stubenarrest bekommen. Danach gab es regelmäßig Stubenarrest, auch wenn ich nur fünf Minuten zu spät war.

Mit meinem Freund haben meine Eltern totale Probleme. Sie versuchen alles, damit ich nicht zu ihm kann. Jedes Mal, wenn ich gefragt habe, ob ich zu ihm darf, hieß es: „Nein, du hast hier noch viel zu tun.“ Mein Freund ist 19, der ist auch arbeitslos. Seit neun Monaten bin ich mit ihm zusammen, seitdem kann ich weder mit meiner Mutter noch mit meinem Stiefvater über irgendwelche Probleme reden. Sie denken, ich wäre in die Szene mit reingerutscht, wo mein Freund drin ist. Die Rechtenszene … Ich bin aber nicht rechts, deswegen verstehe ich die Aufregung nicht. Ich habe ja von Anfang an gewusst, dass er in der rechten Szene ist. Das hat mich aber nicht gestört, sonst hätte ich ja auch nicht so lange um ihn gekämpft. Der hört zwar viel rechte Musik und zieht sich Springerstiefel an, aber es ist eigentlich recht selten, dass er sich mit seinen Leuten trifft. Wenn die irgendwo Krawall machen, ist er nie mit dabei. Am Anfang hat es mich schon gestört, da hockten auch immer so komische Leute bei ihm rum, mit denen habe ich mich nicht verstanden. Aber jetzt ist das anders, die haben mir auch geholfen, als ich von zu Hause abgehauen bin. Sie haben mir Tipps gegeben, wo ich mich hinwenden soll.

Ich mache jetzt Berufsschule. Eigentlich sollte das so ein Abschluss für Kauffrau im Einzelhandel sein, da ich aber so oft nicht da war und so viele Arbeiten nicht mitgeschrieben habe, schaffe ich den Abschluss nicht. Außer ich würde die ganzen Arbeiten nachschreiben. Aber das schaffe ich sowieso nicht, denn nächsten Monat ist Praktikum. Ich habe dann halt einen normalen Hauptschulabschluss, das geht schon, so schlimm ist es nun auch nicht. Ich will sowieso mal später in den hauswirtschaftlichen Bereich, denn so kaufmännisches Zeug, das ist nichts für mich.

Als die Polizisten mich abends vor der Wohnungstür gefragt haben, wo ich jetzt schlafen will, da habe ich nur gesagt: „Nicht hier.“ Sie haben mir die Anonyme Mädchenzuflucht vorgeschlagen. Ich gehe jetzt wieder regelmäßig zur Schule, verstehe mich mit meinen Mitschülern viel besser, und selbst mit meiner Mutter komme ich ganz gut klar. Ich bin einmal in der Woche bei ihr, und sie sieht jetzt auch ein, dass es mir hier bessergeht. Ich bin ja schon fast zwei Monate hier – zurzeit bin ich diejenige, die am längsten hier ist. Nun steht auch fest, dass ich in eine WG gehen darf. Das ist eine Art betreutes Wohnen: es dauert noch ein bisschen, bis die ganzen Anträge genehmigt sind. Nur meine Mutti muss noch unterschreiben. Am Anfang wollte sie nicht, aber jetzt hat sie es sich doch noch einmal überlegt, aber sie sagt, sie braucht noch ein bisschen Zeit.

Nicole, 17 Jahre

Nicole kommt ein paar Minuten zu spät zum Gespräch. Sie musste sich erst noch stylen: Haare waschen, Make-up und neue Klamotten. Zum Föhnen hat die Zeit nicht mehr gereicht. Sie habe kein Problem damit, ihren richtigen Namen in der Zeitung zu lesen, sagt sie. Das sei schon okay. Was passiert ist, kann sie nicht ungeschehen machen, aber jetzt will sie ein neues Leben anfangen.

Ich weiß, dass ich viel Scheiße gebaut habe. Vor kurzem war ich sogar auf der Polizei. Sie haben mich in Handschellen abgeführt und zur Wache gebracht. Dann haben sie mich fotografiert und Fingerabdrücke genommen. Meine Mutti musste mich von der Polizeiwache abholen. Klar fand sie das nicht toll, aber ich habe ihr erzählt, dass ich eigentlich gar nichts gemacht habe. Ich war nur mit ein paar Leuten unterwegs im Mediamarkt, und meine Freundin hatte dort einen Tag vorher Handys geklaut. Der Securitytyp hat sie wiedererkannt, und dann hat er uns gleich beide geschnappt. Wie heißt es so schön: Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen. Meine Mutti hat das verstanden. Es ist überhaupt so, dass meine Mutti mich versteht. Sie hat mich noch nie geschlagen. Nur mein Stiefvater, der hat mich geschlagen. Deswegen bin ich auch von zu Hause weg.

Das erste Mal bin ich vor einem halben Jahr abgehauen, zum Kinder- und Jugendnotdienst. Das ist ein riesiges Haus, und da sind ewig viele Leute: Jugendliche, Kinder und auch Mütter mit Babys. Es ist extrem hektisch und laut dort. Man muss aufpassen, dass einem nichts geklaut wird. Eine Freundin hat mir dann von der Mädchenzuflucht erzählt, und jetzt bin ich hier.

Mein Stiefvater kam zu uns, als ich zehn war. Meine Mutter kannte ihn noch aus der Grundschule. Sie haben sich irgendwann wiedergetroffen, sich ineinander verliebt und geheiratet. Ich habe mich gefreut, weil ich das ja noch nicht kannte, einen Vati zu haben. Am Anfang war es richtig schön. Wir haben viel zusammen unternommen, aber dann, so nach einem halben Jahr, ging es los. Das waren so Kleinigkeiten: Ich hatte das Geschirr nicht weggeräumt, da hat er mich sofort angeschrien. Er selbst ist immer vom Tisch aufgestanden, ohne irgendwas abzuräumen. Einmal nach dem Haarewaschen habe ich das nasse Handtuch in die Wäschebox getan, da hat er es wieder rausgeholt und mir eine geklatscht. Meine Mutti hat mir erklärt: Mein Stiefvater wurde schon von seiner Mutter so streng erzogen. Er durfte als Kind selbst fast nie raus, und wenn, dann musste er pünktlich wieder zurück sein – wehe, wenn nicht!

Irgendwann konnte ich nicht mehr. Ich hatte sowieso Probleme in der Schule, auch wegen meiner Clique. Ich bin halt irgendwann in die falsche Clique geraten. Das waren alles Jugendliche in meinem Alter. Nachts bin ich aus dem Fenster abgehauen. Jetzt habe ich eine Menge Anzeigen am Hals, wegen Ruhestörung und wegen Ladendiebstahl. Das fing alles vor ungefähr einem Jahr an, so mit 16. Rauchen und Alkohol. Wenn man betrunken ist, merkt man nicht mehr so genau, was man macht, da gab es viele Anzeigen. Ein Kumpel hatte eine eigene Bude, in der haben wir oft wilde Partys gefeiert, hemmungslos getrunken und randaliert. Als das mit dem Alkohol anfing, war es gleich ganz heftig, das ging von null auf hundert. Wenn man mit den Kumpels unterwegs ist, will man halt cool sein und trinkt einfach. Harte Sachen und nicht zu wenig. Ich war auch schon zweimal deswegen im Krankenhaus. Plötzlich wurde mir schwarz vor Augen, und ich bin auf der Straße zusammengeklappt.

In der Schule war ich damals äußerst selten. Ich war mit meiner Clique unterwegs, und wir sind durch die Läden gezogen und haben geklaut. Bei H&M habe ich Klamotten für mehr als hundert Euro geklaut, da haben sie mich erwischt und angezeigt. Bei Höffner hatte ich einen Monat Hausverbot wegen Geldbetrug. Ich brauchte Geld, und da habe ich mir etwas ausgedacht. Ich bin zu Höffner rein, habe mir einen Kassenzettel genommen – da liegen ja immer welche auf dem Boden – und habe geguckt, was draufstand. Das Produkt habe ich mir im Regal gesucht und bin mit dem Bon an die Reklamation, um das umzutauschen. An der Kasse bekommt man dafür das Geld ausgezahlt. Das hat oft geklappt. Ich habe das mit einer Freundin gemacht; das Problem war, dass ihr Vater dort gearbeitet hat. Sie hat deswegen zu Hause mächtig Stress bekommen. Der Chef hat aber auf eine Anzeige verzichtet, dafür hatten wir beide dort einen Monat Hausverbot. Bei H&M darf ich noch ein Jahr lang nicht mehr rein, im Mediamarkt und bei Saturn habe ich lebenslanges Hausverbot, wegen Handydiebstahl.

Jetzt will ich aber endlich was ändern. Ich will auch nichts mehr mit meiner alten Clique zu tun haben, weil ich endlich mein Leben auf die Reihe kriegen will. Ich will jetzt meinen Hauptschulabschluss machen. Ich möchte nicht mehr mit 18 in der 10. Klasse sitzen. Ich möchte lieber etwas Praktisches machen, mein eigenes Geld verdienen, und deshalb will ich einen qualifizierten Hauptschulabschluss machen. Danach würde ich gern im Pizza Hut anfangen, dort habe ich mal ein Praktikum gemacht.

Ich bin nicht mehr zu meiner Clique gegangen, von einem Tag auf den anderen. Sie haben sich natürlich gewundert und mich immer wieder angerufen. Ich habe mir irgendwelche Ausreden einfallen lassen. Irgendwann haben sie mich mit meiner neuen Clique gesehen, da war alles klar. Sie haben mich sofort verstoßen. Aber das war mir ganz recht. Meine neue Clique ist ganz okay, das sind halt Leute, die wollen auch ihren Schulabschluss machen, und die halten nicht viel vom Klauen. Von meinem Freund habe ich mich auch getrennt. Der war in der alten Clique.

Seitdem ich hier in der Zuflucht bin, ist auch das Verhältnis zu meiner Mutti besser. Mit meinem Stiefvater habe ich gar keinen Kontakt mehr, das will ich auch nicht. Die Zeit hier tut mir gut. Ich weiß jetzt, was ich will – in eine WG ziehen. Übernächste Woche ziehe ich hier aus. Später will ich auch eine eigene Wohnung haben und arbeiten gehen. Irgendwann will ich auch mal eine Familie, aber erst wenn ich meine Ausbildung sicher habe. So stelle ich mir mein Leben vor: arbeiten, leben und – ja, dann stirbt man ja irgendwann.

Aber einen Wunsch habe ich noch: Ich will meinen richtigen Vati kennenlernen! Ich habe ihn noch nie gesehen. Meine Mutti hat mir ein bisschen was erzählt, sie weiß selbst nicht genau, wer er ist. Aber ich will ihn unbedingt kennenlernen. Wenn ich 18 bin, habe ich das Recht dazu, dann werde ich rauskriegen, wo er steckt und wer das ist.

Heranwachsende mit familiären Problemen finden Beratung beim kommunalen Kinder- und Jugendnotdienst. Ein erster Schritt, Hilfe zu finden, kann auch ein Gespräch mit einer Lehrerin sein, der die Jugendlichen vertrauen CLAUDIA HEMPEL, Jahrgang 1966, lebt und arbeitet als freie Journalistin und Filmemacherin in Dresden. 2006 erschien von ihr „Zurück auf Los. Frauen erzählen aus der Arbeitslosigkeit“ (zu Klampen Verlag, 240 Seiten, 19,80 Euro)