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Archiv-Artikel

Im Griff der Bagger

TREPTOW Mauern und Bäume fallen für den Weiterbau der A 100. Im Senat träumt man derweil von einem Anschluss bis nach Pankow

Wozu Containerdörfer bauen, wenn anderswo Mietshäuser jahrelang leer stehen?

VON CLAUDIUS PRÖSSER

Die Bewohner der Beermannstraße 22 in Treptow trauten ihren Augen und Ohren nicht: Am vergangenen Donnerstag riss ein Bagger mit lautem Krachen eine Bresche in die seitliche Begrenzungsmauer ihres Hinterhofs. Anschließend begannen Arbeiter, die Bäume auf dem Gelände zu fällen und zu zersägen. Weil sie den Bewohnern keine Genehmigung vorzeigen konnten, alarmierten diese die Polizei. Als die Beamten eintrafen, standen von sieben Bäumen noch zwei hohe Birken, aber auch für die gab es keine Rettung. „Wir haben mit der Senatsverwaltung telefoniert, das geht in Ordnung“, sagte ein Polizist, während die Maschine den nächsten Stamm in die Zange nahm.

Viele Menschen wohnen nicht mehr in dem Mietshaus, und auch für sie kam die Attacke nicht vollkommen unerwartet. Die Häuser mit den Nummern 20 und 22 müssen der Verlängerung der A 100 weichen, die hier in ein paar Jahren unter dem S-Bahn-Ring durchtauchen und im Bereich der Puschkinallee enden soll. So wie die Kleingartenkolonie direkt nebenan hat der Bund die Immobilien erworben und den Senat damit betraut, das Gelände zu räumen. Die Mieter erhielten Kündigungen. Bis auf sieben Parteien, die sich gegen ihre Vertreibung wehren, sind inzwischen alle weggezogen. Erst am vergangenen Montag wurde eine kurzzeitige Besetzung der Kleingärten von der Polizei beendet.

Micha ist einer von denen, die noch in der Beermannstraße 22 ausharren, und er ist über das Vorgehen der Behörden aufgebracht. Die Arbeiter hätten sofort angefangen, die Fensterscheiben der Lauben zu zertrümmern, um sie unbewohnbar zu machen. „Eine Kleingartenpächterin, die gegen die Räumung protestiert hatte, ist zusammengebrochen. Vertreter der Senatsverwaltung standen dabei, ihnen war das offensichtlich egal.“ Ihm selbst und den anderen Hausbewohnern droht ein ähnliches Schicksal. Sie haben Widerspruch gegen ihre Kündigungen eingelegt, doch inzwischen kümmert sich in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung die Enteignungsbehörde um den Fall. Werde keine gütliche Einigung erzielt, so heißt es von dort, leite man die „vorzeitige Besitzeinweisung“ ein. Das bedeutet: Zwangsräumung.

Auch der grüne Abgeordnete Harald Moritz ist nach eigener Aussage „entsetzt“. „Es wurden im Vorfeld noch nicht einmal Sicherungsmaßnahmen zum Schutz der Mieter getroffen“, sagt der Verkehrsexperte zu der Rodungsaktion. Er kritisiert schon länger, wie die verbliebenen Mieter unter Umzugsdruck gesetzt werden. Sie erhielten zwar Angebote von landeseigenen Gesellschaften, sollten sich dann aber innerhalb kürzester Frist für teurere Wohnungen in anderen Bezirken entscheiden. „Auf ihre konkrete Situation wird keine Rücksicht genommen.“ Moritz fragt sich, warum der Senat nicht einfach die Mietdifferenz übernimmt: „Dieser Abschnitt der A 100 kostet eine halbe Milliarde, und das Land trägt davon immerhin 20 bis 25 Millionen an Planungskosten. Da sollen die paar Tausend Euro nicht drin sein?“

Bis tatsächlich Autos über den heutigen Hinterhof in der Beermannstraße rauschen, werden noch etliche Jahre ins Land gehen. Offiziell ist die Eröffnung dieses 16. Bauabschnitts für das Jahr 2022anvisiert, aber solche Planungen sind bekanntlich flexibel.

Zurzeit wird vor allem drei Kilometer weiter südlich im Bereich der Neuköllner Grenzallee gearbeitet. Nachdem im Februar dieses Jahres mit der Räumung einer besetzten Pappel der letzte physische Widerstand gegen das Projekt erstickt war, wird das Gelände für den Bau eines Tunnel vorbereitet. Die S-Bahn-Trasse zwischen den Bahnhöfen Neukölln und Köllnische Heide bekommt eine neue Überführung, die aus einem Stahlwerk bei Wilhelmshaven per Schwerlasttransport angeliefert werden soll – nicht von ungefähr ist das ganze Projekt so teuer.

Allerdings: Den Löwenanteil trägt ja der Bund. Vielleicht fiel es der SPD-Fraktion auch deshalb nicht allzu schwer, gemeinsam mit dem Koalitionspartner von der CDU einen Beschluss zu formulieren, der am kommenden Donnerstag vom Abgeordnetenhaus verabschiedet werden soll. Darin wird der Senat aufgefordert, sich beim Bund für die Planung des folgenden 17. Bauabschnitts einzusetzen. Der würde dann irgendwann per Tunnel bis zur Frankfurter Allee führen.

Ganz ohne Diskussionen wird es trotzdem nicht gehen. Immerhin ist die SPD-Basis in Sachen Autobahnausbau völlig gespalten: Der aktuelle Bauabschnitt war einst per Parteitagsbeschluss und gegen den Willen der eigenen Senatsmitglieder abgelehnt worden, später wetzte man diese Scharte unter erheblichem Aufwand wieder aus.

Aber vielleicht sind die Genossen ja auf den Geschmack gekommen. Der designierte Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel jedenfalls denkt noch weiter. Im Interview mit der Berliner Morgenpost griff der amtierende Lichtenberger Bürgermeister ein altes Argument der Ausbaugegner auf, um es quasi ins Gegenteil zu verkehren: „Am Ende des 16. Bauabschnitts werden wir ein Verkehrsproblem bekommen“, sagte er, und ergänzte: „Wir können den Stau natürlich nicht immer ein Stück weiter an das Ende der Autobahn verschieben, deswegen brauchen wir den Weiterbau bis zum Pankower Autobahnzubringer.“

Also gleich noch ein paar Abschnitte und Betonmilliarden weiterdenken? Da äußert sich dann auch der verkehrspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Ole Kreins, eher vorsichtig. Er selbst, so Kreins, habe sich beim 16. Bauabschnitt von den Fakten überzeugen lassen, jetzt müsse man erst mal die Planung des 17. Bauabschnitts genauer ins Auge fassen. Autobahnen in der Stadt bei der Bevölkerung durchzusetzen werde ja immer schwieriger, meint Kreins. „Wenn der Bund am Ende sagt, das sei alles zu teuer, dann ist das eben auch eine Aussage.“

In der Opposition schüttelt man nur noch den Kopf ob Geisels Vorstoß. Andreas Baum (Piraten) findet, Geisels „Zukunftsvision“ passe „nicht zu einer Stadt, die eine hohe Lebensqualität bieten will“. Harald Moritz findet das Ganze „aberwitzig“.

Harald Wolf, Verkehrsexperte der Linksfraktion, spricht von einem „Stück aus dem sozialdemokratischen Tollhaus“. Eine Weiterführung der A 100 bis Pankow sei „eine Fahrt in die absolute Vergangenheit der Verkehrspolitik, zurück zur autogerechten Stadt“. Geisel ignoriere damit ausgerechnet einen Beschluss des Lichtenberger Bezirksparlaments, das sich schon gegen einen Weiterbau zur Frankfurter Allee ausgesprochen habe. Und wenn der rot-schwarze Senat vom Bund weiterhin die Finanzierung milliardenschwerer Autobahnabschnitte fordere, sei das, so Wolf ironisch, „eine prima Vorlage bei der Diskussion um den Länderfinanzausgleich“.

Den Mietern in der Beermannstraße 22 hilft diese Debatte jetzt nicht mehr, aber sie haben selbst Ideen. Micha hat schon mehrere Politiker angeschrieben und vorgeschlagen, aus dem fast völlig entmieteten Haus mit der Nummer 20 wenigstens temporär eine Flüchtlingsunterkunft zu machen. „Man muss es nur wollen“, sagt er, „im Gegensatz zur 22 ist da alles saniert, die Heizungsanlage ist neu, es wäre sofort beziehbar.“ Wozu Containerdörfer bauen, wenn anderswo Mietshäuser mit Wohnungen noch jahrelang genutzt werden könnten, fragt er.

Auch Sozialsenator Mario Czaja (CDU) hat er den Vorschlag unterbreitet, eine Antwort stehe noch aus. Für den flüchtlingspolitischen Sprecher der Piraten, Fabio Reinhardt, ist eine solche Zwischenlösung zwar gesamtstädtisch betrachtet „ein Tropfen auf den heißen Stein“. Er findet es aber „gut, dass sich Leute Gedanken machen“ – und prüfen könne Czajas Senatsverwaltung den Vorschlag ja in jedem Fall.