: Gipfelstürmer und ihr Schicksalsberg
Der feine englische Alpine Club wird 150 Jahre alt. Auch Queen Victoria konnte die „Verschwendung besten englischen Blutes“ nicht verhindern
VON KORNELIA STINN
Es war vor 150 Jahren – am 22. Dezember des Jahres 1857 – als elf Herren der feinen englischen Gesellschaft im Londoner Ashley’s Hotel den ersten Alpinen Club der Welt gründeten. Der Alpine Club, wie er bis heute heißt, scheint beim Feiern dieses Ereignisses den gleichen Enthusiasmus und die gleiche Ausdauer an den Tag zu legen, wie es seinerzeit ihre Vorfahren beim Ansturm auf die vornehmlich Schweizer Gipfelwelt zu tun pflegten. Ein ganzes Jahr lang, und das bereits im Vorhinein, begeht er diesen Geburtstag mit Ausstellungen, Treffen mit anderen Alpenclubs, Expeditionen und einer – so nennt er das auf seiner Homepage – „Extravaganza“ in Zermatt. Dem Ort, zu dem seine Mitglieder bis heute mit Seil und Pickel als zum „Mountaineer’s true home“ pilgern.
Kurios mag es erscheinen, wie ausgerechnet in jenem Inselreich, dessen Erhebungen kaum die 1000er-Marke überschreiten, als Erstes die Idee zu einem alpinen Club erwachen konnte. Andererseits ist es so ungewöhnlich auch wieder nicht, nach dem zu streben, woran man Mangel verspürt. Die Zeiten waren gerade günstig dafür, diesem Streben nachzugeben. Das Viktorianische Zeitalter bescherte den Menschen einen gewissen Wohlstand, Selbstbewusstsein und – nicht zuletzt dank des Ausbaus von Eisenbahnlinien – Mobilität. Die Reiselust erwachte, man rückte den Alpen näher. Entdeckte die armen Bergvölker und die grandiose Gipfelwelt der Schweiz.
Der sportliche Ehrgeiz, diese Gipfel zu bezwingen, erwachte. Der Beginn des goldenen Zeitalters des Alpinismus ist „verbucht“ im Jahre 1854. Es war der englische Rechtsanwalt Alfred Wills, der damals mit der Besteigung des Wetterhorns, die keine Erstbesteigung war, in die Annalen der Bergsteigergeschichte einging. Einer Bergsteigergeschichte ganz aus Selbstzweck, nicht um geologische oder botanische Erkenntnisse zu gewinnen, wie vormals üblich.
„Bergsteigen als Tätigkeit ohne besonderen Zweck auszuüben, dem Spaß zuliebe, wenn man so will“, charakterisiert Stephen Venables, der derzeitige Präsident des Alpine Clubs, die Triebfeder der Mitglieder damals wie heute, sich dem Kletterabenteuer hinzugeben. „Es scheint in der Natur der Briten zu liegen, verrückte Arten des Zeitvertreibs zu erfinden“, fügt er hinzu. Wobei aber schon 500 Jahre vor ihnen bereits ein anderer auf einer Bergspitze stand und allein den Genusswert pries. Das war Petrarca auf dem Gipfel des Mont Ventoux in der Provence.
Zweifellos eine Ausnahme inmitten eines noch Jahrhunderte andauernden Zeitraums der Mystifizierung von Gebirgen und der tiefen Verwurzelung abergläubischer Geschichten, die bisweilen auch heutzutage noch in Walliser Bergdörfern herumgeistern. Jene vom nächtlichen Zug der Toten über die Gletschergrate, der demjenigen Unglück bringen soll, der ihn sieht, sei hier als Beispiel genannt.
Den Schauergeschichten, die in der Bergbevölkerung damals noch weit verbreitet waren, begegneten die Gipfelstürmer des Königreiches mit höchst erstauntem Befremden. Ungebremst war ihre Leidenschaft für den neuen Sport in den Schweizer Alpen. Sie heuerten örtliche Bergführer an – und nach und nach entstanden schließlich auch Hotels in den Bergregionen.
Und so kam es zur Gründung des Alpine Club: Die Idee dazu reifte heran, nachdem den Briten William Mathews und Edward Shirley Kennedy im Jahre 1857 die Erstbesteigung des 4.273 Meter hohen Finsteraarhorns in den Berner Alpen gelungen war.
Elf Herren waren es – darunter Rechtsanwälte, Geistliche, Architekten – allesamt Bergsteiger, die sich im Club vereinten. Den Austausch über Fragen der neuen Sportleidenschaft wollten sie – nach guter englischer Sitte – beim regelmäßigen Dinner pflegen und gemeinsam Touren planen. Acht Jahre später hatte der Club bereits 290 Mitglieder.
Unbestritten war unterdessen, dass die Engländer tatsächlich als die Pioniere der Alpen gelten durften. Im goldenen Zeitalter des Alpinismus – von 1854 – 1865 – waren zahlreiche Mitglieder des Königreiches im Banne ihrer neu entdeckten Leidenschaft als Gipfelstürmer und -eroberer vor allem in der Schweiz unterwegs. Von 39 bedeutenden Alpengipfeln wurden 31 von englischen Amateuren in Begleitung einheimischer Bergführer erstbestiegen. Die schwierigste und darum letzte Bergspitze, die es im Lande der Eidgenossen zu erobern galt, war die des Matterhorns. Edward Whymper – wieder ein Brite und ein „AC“-Mitglied – konnte sich diesen Sieg im Jahre 1865 auf die Fahne schreiben. Ein Sieg, der, wie man weiß, mit einem Drama endete. Ein französischer Bergführer und drei Briten stürzten ab, weil das Seil beim Abstieg riss. Verdächtigungen, dass es Whymper oder sein Zermatter Bergführer Peter Taugwalder manipuliert haben könnte, wurden von Gegnern des Alpinismus trotz anders lautenden gerichtlichen Urteils am Leben gehalten.
Sie waren der Grund dafür, dass die Bergsteigerei aus Leidenschaft damals in Verruf geriet. Die Times zog darüber her und Queen Victoria ließ sogar prüfen, ob es möglich sei, ein Gesetz zu erlassen, das Engländern die Kletterei verbietet. Galt es doch, der „Verschwendung besten englischen Blutes“, wie sie es nannte, entgegenzuwirken. So wurde das Matterhorn zum Schicksalsberg der englischen Bergpioniere – und zugleich zum magischen Anziehungspunkt.
Angezogen fühlte sich auch Winston Churchill, der wie einst auch Whymper im legendären Hotel Monte Rosa übernachtete. Auch er, so heißt es, wollte das Matterhorn besteigen und erkundigte sich, was es koste, einen Bergsteiger zu mieten.
„Hundert Pfund“, erhielt er zur Antwort. Als er erfuhr, dass ein Aufstieg auf die Dufourspitze mit Begleitung nur siebzig Pfund kostete, obwohl dieser Gipfel höher war als der des Matterhorns, entschied er sich für diese Route. Ungeachtet der Tatsache, dass der Aufstieg zum Matterhorn schwieriger ist, mag er wohl das „Geschäft“ für ein echtes Schnäppchen gehalten haben.
Längst eroberten Bergsteiger des „Alpine Clubs“, der mittlerweile Mitglieder aus vielen Ländern und unter anderem auch Bergsteigerlegenden wie George Mallory oder Edmund Hillary in seiner Liste führt, die Achttausender der Welt und kehrten doch immer wieder nach Zermatt zurück. Das war den Zermattern einen Gedenkstein als Freundschaftsgeschenk zum Geburtstag des Alpine Club wert. Sie platzierten ihn neben dem neuen Matterhorn Museum. Beifällig nickten die englischen Gäste, als der Tourismusdirektor von Zermatt, Roland Imboden, während der Jubiläumsfeierlichkeiten am 22. Juni sagte:
„If mountains have a home, it is Zermatt.“ Wer könnte ihm die Zustimmung zu diesem vollmundigen Eigenlob verweigern? Schließlich kann kein anderer Ort in den Alpen Ausblick auf 38 Viertausender bieten und ist selbst Ausgangspunkt für 29 dieser Gipfel, mit dem Matterhorn als Hausberg noch dazu.
Es ist eben „The mountaineer’s true home“, und eigentlich, ja eigentlich ist es höchst verwunderlich, dass zwischen den in Andenkenläden auf Pullis oder Trinkbechern allgegenwärtigen helvetischen Kreuzen nicht auch mal die britische Flagge weht.