Rock ’n’ Roll und Bibelstunde

FLÜCHTLINGSLAGER Die alte Ordnung der DDR hatten sie verlassen, eine neue war noch fern: „Nahaufnahme. Fotografierter Alltag in West-Berliner Flüchtlingslagern“ beschreibt das Leben im Dazwischen

Zwei Welten prallen in diesem Bild aufeinander, das sagt dem Betrachter schon die Kleidung: Alles an dem jungen Mann glänzt, seine Lederjacke, die zur Tolle frisierten Haare; alles an der älteren Frau scheint gefältelt, das schlichte Kleid, die weiße Haube, selbst das Gesicht ist vom Lächeln in Falten geschoben. Sie, eine Diakonissin, wendet sich freundlich dem jungen Rock ’n’ Roller zu, der ihr anscheinend sein Transistorradio erklären möchte.

Das ist, nicht schwer zu durchschauen, eine inszenierte Fotografie. Sie gehört zu einer Serie, die 1960 im Lager Askanierring entstand, in Berlin-Spandau. Das Lager Askanierring war eines von rund 70 Lagern in Westberlin, die Flüchtlinge aus der DDR aufnehmen und versorgen sollten. Zu den Betreuern gehörte die Evangelische Flüchtlingsseelsorge, und in deren Archiv fand sich 2005 eine große Sammlung von Fotos, die das Leben an diesen Orten zwischen Flucht und Neubeginn dokumentieren. 70 dieser Aufnahmen, die aus dem Jahrzehnt vor dem Mauerbau stammen, hat die Stiftung Berliner Mauer jetzt in einem Buch herausgebracht: „Nahaufnahme. Fotografierter Alltag in West-Berliner Flüchtlingslagern“.

Das Bild von der höflichen Zuwendung zwischen Diakonisse und jungem Mann ist Teil einer Serie, mit der die Kirche ihre Jugendarbeit dargestellt hat; andere Serien gelten Themen wie Bibelstunde und Konfirmation. Was man nicht sieht, wohl aber aus den Berichten von verantwortlichen Pfarrern erfahren kann, ist die Angst der Seelsorger vor der Verwahrlosung der Jugendlichen. Clemens Niedenthal, der zu den Bildern kurze Text geschrieben hat, berichtet davon. Als Anzeichen dafür galt Oberflächlichkeit, die allein schon aus der Lektüre von Heftchen und dem Schwärmen für Schauspieler abgelesen wurde. Fünfziger-Jahre-Mief eben, und ein Festhalten an inneren Werten, die sicher auch angesichts der knapp zurückliegenden Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs heraufbeschworen wurden.

Diese Zeit tritt einem in „Nahaufnahme“ wieder entgegen. Bevor man noch in den zwischen 1952 und 1962 entstanden Fotografien die Signatur des Lagerlebens erkennt, rufen sie die Nachkriegszeit wach. Frisch gewaschene Wäsche auf Trümmergrundstücken, das wiederholt sich. Auch ein Zug von Konfirmanden führt unter der Wäsche durch. Kinder, denen im Treppenhaus ein Friseur die Haare schneidet, oder eine Szene mit Nähmaschine, in der drei Frauen gebrauchte Kinderkleidung dem nächster Träger anpassen: Das alles zeugt nicht nur von Not, sondern auch von der ständigen Herausforderung zur kleinteiligen Improvisation im Alltag der Nachkriegsjahre.

Die Bilder stammen von professionellen Fotografen, in Gemeindebriefen und Kirchenzeitungen warb die Kirche damit um Empathie und Spenden. Flucht aus der DDR war damals auch ein Thema für Kalte-Kriegs-Propaganda: Diese Tendenz, mit den Geflohenen Politik zu machen, oder auch die Stigmatisierung als Flüchtling, findet sich in den Bildern nicht. Dennoch tut Clemens Niedenthal gut daran, sie nicht einfach als objektives Dokument des Alltags in den Notaufnahme- und Übergangslagern zu lesen, sondern auch quellenkritisch zu befragen.

Er versucht, dabei viel aus den Bildern herauszulesen, auch über das Unbehagen der Flüchtlinge, „die sich aus ihrer oppositionellen Haltung gegenüber der DDR heraus vor ihrer Flucht häufig als engagierte und von Repressalien bedrohte Demokraten wahrgenommen hatten. Diese exklusive Selbstverortung als gesellschaftliche Elite passte jedoch nicht zum Bild der überfüllten Massenschlafsäle und der improvisierten, ja schäbigen Massenunterkünfte. Warum wurde man, so mussten sie sich fragen, in Westberlin und Westdeutschland nicht angemessen aufgenommen?“ Aber mit dieser Frage geht er weit über das hinaus, was die Bilder zeigen wollten. KATRIN BETTINA MÜLLER

Clemens Niedenthal: „Nahaufnahme. Fotografierter Alltag in West-Berliner Flüchtlingslagern“. Ch. Links Verlag, Berlin 2011, 96 Seiten, 12,90 Euro