Trash und Todesstreifen

BAUWERK War die Mauer etwa Kunst? Die Ausstellung „Aus anderer Sicht“ dokumentiert die zusammengebastelten Anfänge der Grenzanlagen

Die Ausstellung „Aus anderer Sicht. Die frühe Berliner Mauer“ läuft noch bis zum 3. Oktober in Berlin, Unter den Linden 40, täglich von 10 bis 20 Uhr. Infos unter: www.aus-anderer-sicht.de.

Der Stand der Grenzanlagen in den Jahren 1964 und 1965 wird darin genau dokumentiert. Der Ausstellung entnahmen wir die Fotos auf den Kulturseiten dieser sonntaz.

VON RONALD BERG

Beim Fluxus-Festival in Aachen, 1964, empfahl Joseph Beuys die „Erhöhung der Berliner Mauer um 5 cm (bessere Proportion!)“. Professor Beuys musste sich daraufhin beim NRW-Innenministerium erklären. Seine Betrachtungsweise, so argumentierte Beuys, „entschärft sofort die Mauer. Durch inneres Lachen“.

Unbeachtet blieb damals, dass die sogenannte Mauer in Berlin weder ein einheitliches Maß noch eine uniforme Gestalt hatte. Sie bestand zu jener Zeit aus einem improvisierten Sammelsurium von Zäunen, Betonplatten und stehen gebliebenen Fassadenresten, dazu kamen noch die Beobachtungstürme, Panzersperren, Lichttrassen und Gräben im Vorfeld bzw. Hinterland der Mauer, also das, was man (im Westen) „Todesstreifen“ nannte.

Wie die Maueranlagen in den Jahren 1965/66 tatsächlich aussahen, kann man jetzt in einer Ausstellung in Berlin en detail studieren. 324 breitformatige Fotopanoramen bilden die Gestalt der Mauer quer durch Berlin auf über 40 Kilometern exakt ab. Aufgenommen wurden sie von den DDR-Grenztruppen selbst. Der Blick geht also von Osten über die Sperranlagen nach Westen. Die Bilder liefern eine Art Stadtrundfahrt „Aus anderer Sicht“, wie es im Titel heißt.

Ursprüngliche Absicht der Aufnahmen war es wohl, die Grenzsicherungsanlagen zu perfektionieren. Mit dem seriellen Betonteil „Grenzmauer 75“, das beim Mauerfall 1989 das ikonische Bild des Bauwerks abgab, haben diese Aufnahmen also noch nichts zu tun. Ob sie überhaupt jemals ausgewertet wurden, ist fraglich.

Annett Gröschner und Arwed Messmer stießen auf das Material zuerst 1995 bei Recherchen zu einer Dokumentation des Gleimstraßentunnels zwischen Ost- und Westberlin. Erst 2008 begannen sie, systematisch den Nachlass der Grenztruppen im Bundesarchiv zu sichten. Arwed Messmer, von Hause aus Fotograf, brauchte mehrerer Monate, um die 1.200 eingescannten Einzelnegative per Computer zusammenzusetzen. Zwar waren in den Sechzigern keine Berufsfotografen am Werk, aber die Mauer präsentiert sich nun auf den Computerausdrucken in aller Übersichtlichkeit und formaler Stringenz auf betongrauen Spanplatten auf insgesamt 250 Meter Lauflänge.

Dazu kommen noch verschiedene andere Themenräume: Einer beherbergt ausschließlich Ansichten der Beobachtungstürme und Unterstände, ein anderer mit verschwommenen Balken anonymisierte Passbilder von Grenztruppenangehörigen, und noch einer zeigt Tatortfotos von Grenzdurchbrüchen.

Wüsste man nicht um den Schrecken der Mauer, so würde man sich nun erstaunt fragen müssen: War die Mauer etwa Kunst? Die Ansammlung der Wachtürme ähnelt nur zu genau den fotografischen Typologien, die Bernd und Hilla Becher mit Fördertürmen oder Fachwerkhäusern vorexerziert haben. Auch Fotos der Tatorte von Verbrechen und Verkehrsdelikten kamen einem in letzter Zeit öfter schon im Kunstkontext vor Augen, etwa bei Fotografen wie Weegee, Joel Sternberg, Arnold Odermatt und anderen.

Die ästhetische Dimension, die – wie Beuys schon betonte – niemals allein vorkommt, tritt jetzt auf der bildlichen Ebene deutlich in den Vordergrund. Die Mauer erscheint – besonders am Stadtrand – als etwas, was man heute vernacular architecture nennt: als amateurhaft-handwerkliches Gemurkse, das am ehesten noch mit der Datsche in der Kleingartensparte verwandt zu sein scheint – oder westlich gesprochen mit der Laube Marke Eigenbau im Schrebergarten. Dieser ästhetische Aspekt erklärt sich sowohl politisch wie ökonomisch: Der Bau der Mauer war offenbar eilig, ohne besondere materiellen Ressourcen und überhaupt ohne den sonst obligatorischen Plan erfolgt. Das damalige Ergebnis sieht heutigen Kunstinstallation im Trashformat erstaunlich ähnlich.

„Die Betrachtung der Berliner Mauer aus einem Gesichtswinkel, der allein die Proportion dieses Bauwerks berücksichtigt, müsse doch wohl erlaubt sein“, hatte Beuys schon 1964 angemerkt.

Doch dabei belässt es die Ausstellung dann doch lieber nicht. Tatsächlich relativiert sich die ästhetische Ebene spätestens, wenn man auf die von Gröschner besorgte textuelle Dokumentation stößt. Sie hat Fluchtgeschichten aus den Materialien der Grenztruppen rekonstruiert, die in Mappen nachzulesen sind. Außerdem sind allen Panoramen Zitate aus Protokollen der Ostgrenzer beigegeben, die die damalige Befindlichkeit zwischen Ost und West anschaulich machen. Von der Beschimpfung zweier Westberliner Polizisten als „Saubuletten – Trassenhunde“ über das von West nach Ost geworfene Paket mit Zigaretten und Schokolade inklusive „Grüßen und alles Gute an Sie und Ihre Kameraden“ ist zwischenmenschlich so ziemlich alles vertreten.

Diese „andere Sicht“ auf die Berliner Mauer zeigt sich also als ein verwickeltes Konstrukt: Ein westöstliches Mann-Frau-Kollektiv/Team benutzt Ostmaterialien, nachdem der Westen in Deutschland politisch flächendeckend Einzug gehalten hat, um aus den Täterakten Opfergeschichten zu destillieren. Vielleicht sind solch andere Perspektiven und Nuancierungen in der Betrachtung der Mauer erst mit zeitlichem Abstand zur Historie möglich.

Technisch gesehen hätte man die Bilder bei ihrer Entdeckung vor anderthalb Jahrzehnten jedenfalls gar nicht ohne unzumutbaren großen Aufwand zusammensetzen können. Hard- und Software-Kapazitäten für die Aufgabe waren für den normalen Anwender damals schlicht unzugänglich.