: Die Chance der Brutalität
ABGRENZUNG Billige Wohnungen, kiffende Intelligenzija, keine Sperrstunde: Wie die Mauer die radikale Linke und das Biotop Westberlin erschuf
VON CHRISTIAN SEMLER
Der große Saal der Westberliner Akademie der Künste, 1964. Pier Paolo Pasolini, gefeierter italienischer Filmemacher und Autor, überrascht das – überwiegend linksgestimmte – Publikum mit einer unerwarteten Frage: Warum ist der Bau der Berliner Mauer kein Thema für die deutschen Filmemacher? Obwohl seit Kriegsende kaum ein Ereignis so tief in das Leben der Menschen eingegriffen hat? Peinlich berührtes Schweigen. Die darauf folgenden Erklärungsversuche, es handle sich beim Mauerbau um ein vollständig von der Politik vereinnahmtes Thema und man wolle weder eine Anklage- noch eine Rechtfertigungspropaganda, wischt Pasolini beiseite. Nichts Wichtiges, was das Zusammenleben der Menschen betrifft, verschließe sich der differenzierten künstlerischen Bearbeitung.
Die gleiche Frage „Was geht uns die Berliner Mauer an?“ hätte man in den folgenden zweieinhalb Jahrzehnten auch an die Berliner Linke richten können. Auch hier wäre peinlich berührtes Schweigen die erste Antwort gewesen. Und das, obwohl der Mauerbau vielleicht eine zentrale Vorbedingung dafür war, dass in Westberlin eine unabhängige, radikale linke Bewegung entstehen konnte – als Vorreiter, wie auch als Bestandteil des Westberliner Biotops der siebziger und achtziger Jahre.
Die schier unfassbare Brutalität des Mauerbaus diskreditierte 1961 für lange Zeit die Hoffnungen, die sich für viele westliche Linke mit der DDR als einem wenngleich bürokratisch deformierten, aber doch entwicklungsfähigen Stück Sozialismus auf deutschem Boden verbunden hatten. Die politische Rechtfertigung der Mauer als „antifaschistischer Schutzwall“ war eine offensichtliche Propagandalüge und gab für die Rechtfertigung nichts her. Als factum brutum zwang die Mauer das Häufchen Linker, das in der Sozialdemokratie keine Heimat fand, zu einer eigenständigen Positionsbestimmung jenseits des Kapitalismus wie des Realsozialismus. Eine Herausforderung. Aber auch eine Chance.
Demografisch, wirtschaftlich und politisch bedeutete der Mauerbau einen tiefen Einschnitt in das Westberliner Getriebe. Viele bedeutende Unternehmen der verarbeitenden Industrie wanderten nach 1961 nach Westdeutschland ab und mit ihnen Management, qualifizierte Techniker, Facharbeiter und ganze Forschungsabteilungen. Der Altersdurchschnitt der Bevölkerung stieg im Verhältnis zu den westdeutschen Städten steil an. Daran konnten auch massive Geldspritzen, Investitionszulagen und Steuerermäßigungen (die sogenannte Zitterprämie) nichts ändern. Die Frage, ob ein karrierebewusster junger Mensch nach 1961 bereit war, nach Berlin zu gehen, um dort sein Glück zu machen, kann mit einem glatten Nein beantwortet werden.
Wer kam stattdessen? Eine Jahr um Jahr anschwellende Schar junger Leute mit Abitur, die nach Westberlin zogen, um sich dem Wehrdienst zu entziehen. Es gab billige Wohnungen und die Lebenshaltungskosten lagen unter dem bundesdeutschen Großstadt-Durchschnitt. Mit der Freien Universität existierte in Westberlin eine Bildungsanstalt mit antifaschistischem wie antistalinistischem Anspruch. Sie war in ihrem Lehrangebot und in ihrer inneren Struktur ursprünglich als Alternative zum konventionellen Universitätsbetrieb gegründet worden, wenngleich sich dieser Anfangsimpetus in den sechziger Jahren weitgehend verflüchtigt hatte. Und: In Westberlin gab es ein überreiches Angebot an kultureller Produktion, das vom Senat, vom Bund und von den USA reich alimentiert wurde. Bedeutende und wohldotierte Künstler und Schriftsteller machten in Westberlin Station. Mit der Truppe des berühmt-berüchtigten Living Theatre hielt der Haschkonsum in die linke Intelligenzija Berlins Einzug. Wer als junger Mensch nach Westberlin zog, tat das nicht um einer raschen Karriere willen, sondern aus Lebenslust und Erwartungshunger. Oder einfach, weil es keine Sperrstunde gab. Westberlin – the best place in the world to get drunk. So hatte die alte Forderung der Sowjetunion, Westberlin zu einer entmilitarisierten freien Stadt zu machen, für die Linke einen beachtlichen Realitätsgrad erreicht. Dieses Biotop in Progress wurde zur sozialen Basis der radikal linken Bewegung.
Der Lebensstil, vor allem aber die gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam gerichtete Bewegung entfremdete die jungen Leute von der alteingesessenen Berliner Bevölkerung. Jeder Angriff auf die Politik der USA bedeute für die Ureinwohner einen Angriff auf ihre Beschützer, auf die Freiheit Westberlins. Gerade weil Westberlin vollständig am Tropf der Bundesrepublik hing, hielt die Bevölkerung eisern an ihrem Selbstverständnis fest, wonach die Berliner Vorkämpfer der Freiheit gegen den Unrechtsstaat und sein Symbol – die Mauer – waren. Wer dies nicht achtete, war eben ein typischer Westdeutscher, ein satter Bundesbürger. Und die, die in Westberlin randalierten, waren schließlich die Kinder dieser Undankbaren. „Geh doch nach drüben“, schallte es den Demonstranten entgegen. Nach drüben – jenseits der Mauer, wo ihr hingehört und wo man euch Mores lehren wird. Aber diese Erziehungsarbeit hatten die Berliner Linken nicht nötig. Jede Grenzkontrolle, jede Belehrung, jede Beschlagnahmeaktion erwies den autoritären Charakter des Regimes. Was sich östlich der Mauer abspielte, galt als öde. Als intellektuell uninteressant. So kam es, dass es kurz vor dem Fall der Mauer Angehörige des Berliner Biotops gab, die noch nie in Ostberlin gewesen waren, von der übrigen DDR zu schweigen.
Mit jedem Jahr der „Normalisierung“ des Mauerbaus nahm das politische Interesse an der Mauer und die Forderung nach ihrer Beseitigung im linken Milieu ab. Verstärkt wurde diese Tendenz durch die Anwendung des Satzes „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“. Wenn die Springerpresse an ihrer „Macht das Tor auf“-Demagogie und an ihrer DDR mit Gänsefüßchen festhielt, konnte dies nicht Sache der Linken sein. Die beginnende Entspannungspolitik nach dem ersten Passierscheinabkommen von 1963 traf auf die Sympathie vieler Linker. Die Propaganda der Springerpresse erschien ihnen nicht nur realitätsfremd, sondern auch gefährlich. Denn wie sollte die Mauer beseitigt werden, wenn nicht durch Krieg?
1976 machten sich die DDR-Grenztruppen daran, einen neuen Mauertyp zu errichten, die „Grenzmauer 75“. Dieses drei Meter fünfzig hohe, aus Betonplatten errichtete Bauwerk stand direkt neben der Sektorengrenze und war meist weiß grundiert. Als wäre dies eine Einladung der DDR-Behörden an das Westberliner Biotop gewesen, machten sich Maler, Graffitikünstler, Kritzler aller Art – darunter auch ein paar politische Köpfe – an die Arbeit. Allerdings galt es, vorsichtig vorzugehen. Denn die neue Grenzmauer stand ein paar Meter auf Ostberliner Gebiet und war mit Türen versehen, die vom Westen aus nicht sichtbar waren. Mancher Graffitikünstler wurde festgenommen und musste sich als Grenzverletzer verantworten.
Diese Verwandlung der Mauerwestseite in ein Betätigungsfeld freier künstlerischer Tätigkeit entsprach ziemlich genau der Bewusstseinslage im Westberliner linken Biotop. Aber sie war auch Ausdruck selbstbezogener politischer Blindheit und Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal derer jenseits der Mauer. Deshalb war es kein Wunder, dass die Linke von der demokratischen Revolution in der DDR und dem Mauerfall überrollt wurde. Und dass sie keine politische Antwort fand, als die nationale Frage urplötzlich wieder auf der historischen Agenda stand.
■ Christian Semler, 72, war einer der Köpfe der Westberliner Studentenbewegung und Vorsitzender der maoistischen KPD-AO