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Archiv-Artikel

Nach 30 Jahren der erste Bestseller

Verlage im Norden (VII): Die Hamburger Edition Nautilus hat die Krimi-Überraschung „Tannöd“ entdeckt. Die Verleger werden damit zum ersten Mal auch finanziell dafür belohnt, dass sie es sich leisten, nicht in Schubladen zu denken. Im Übrigen betreiben sie Anarchismus in Wort und Tat

„Man muss auch mal ein Risiko eingehen“, sagt Verleger Lutz Schulenburg. „Nicht nur ökonomisch.“

VON GERNOT KNÖDLER

Der Anarchismus versteckt sich in der Fußgängerzone von Hamburg-Bergedorf. An der Tür klebt ein Hinweis: „Fußmassage-Praxis, klingeln Sie bitte neben dem roten Punkt.“ Neben der Praxis hat die Edition Nautilus vier große Räume mit Papier und Fichtenholz-Regalen gefüllt. Vor 20 Jahren, sagt Verleger Lutz Schulenburg, da habe der Stadtteil ja noch eine eigene Bourgeoisie gehabt. „Jetzt ist Glunz weg, Penndorf ist weg – aber Nautilus ist noch da.“ Glunz und Penndorf waren die örtlichen Kaufhausmagnaten. Schulenburg, ein Lulatsch in den 50ern mit einer Prinz-Eisenherz-Frisur in grau-weiß, kann eine gewisse Befriedigung nicht verhehlen.

Kein Wunder: Als „Rächer der Enterbten“ verstehen sich die Leute von Nautilus augenzwinkernd. Wie Käpt’n Nemo mit seinem Unterseeboot versuchen sie der Gesellschaft mit ihren Zwängen und Konventionen zu trotzen. Trotzdem haben sie im Rahmen der Spielregeln der kapitalistischen Wirtschaft gerade einen sensationellen Erfolg eingeheimst: Der von Nautilus verlegte Krimi „Tannöd“ von Andrea Maria Schenkel hat eine Auflage von 250.000 Stück erreicht und war zeitweilig auf Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste.

Die Edition Nautilus verlegt keine Allerweltsliteratur und orientiert sich auch nicht in erster Linie daran, was sich wohl gut verkaufen wird. Dafür sind die Interessen von Schulenburg und seiner Co-Verlegerin Hanna Mittelstädt zu speziell. Sie trägt Hosen, knallrote, vielleicht gefärbte Haare. Zu Verlegern sind Mittelstädt und Schulenburg Anfang der 70er Jahre geworden, durch das Drucken anarchistischer und dadaistischer Texte. Sie übersetzten und brachten Texte heraus, die sie sich selbst gerne als Buch gekauft hätten. Heute teilt sich das Verlagsprogramm in Krimis, Politik und Neue Literatur. Dazu kommt eine feine Kunst-Reihe – und „Dinner for One“. Die Rechte an dem Silvesterknaller trieb ein gutmütiges Schicksal Schulenburg und Mittelstädt in die Arme: als Geschenk zur Party ein Longseller, der die Firma jahrelang über Wasser gehalten hat.

„Das war sofort ein wunderbarer Erfolg“, sagt Schulenburg, „und zugleich der Türöffner für das mittlere Sortiment.“ Mittelgroßen Buchläden konnten die Vertreter mit dem Sketch gleich ein paar andere Bücher aus dem Verlagsprogramm andienen. „Unser Verlag wuchs damit, dass wir verlagsfremde Sachen machten“, stellt Mittelstädt fest. Doch gerade „Dinner for One“, wo es dem Butler nur mit größter Mühe gelingt die Form zu wahren, um am Ende von der Dame des Hauses für Liebesdienste in Anspruch genommen zu werden, passt eigentlich gut zur Edition Nautilus und ihrem Interesse für Anarchisten, Dadaisten, Surrealisten, Situationisten und Futuristen.

„Dadaismus“, sagt Schulenburg, „ist der lustige Aspekt der Avantgarde.“ Und an der reizt ihn das Egalitäre und Emanzipative, der mangelnde Respekt vor Autoritäten, der Wunsch, dass sich jeder möge entfalten können. „Wenn eine nichtkapitalistische Gesellschaft geschaffen werden soll, in der der Mensch im Mittelpunkt der Ökonomie steht“, sagt Schulenburg, „kann das nur eine Gesellschaft sein, die dezentral und selbstorganisierend aufgebaut ist.“

Später wuchtet er einen rot-schwarzen Klotz auf den Tisch: „Anarchie“ steht groß drauf. „Idee – Geschichte – Perspektiven“, von Horst Stowasser. Von einer kleinen Broschüre ist der Band im Verlauf von mehr als 30 Jahren und der Betreuung durch verschiedene Verlage zu einem 500-Seiten-Wälzer angeschwollen. „Das muss groß rauskommen“, sagt Schulenburg unter Verweis auf die knallige Aufmachung. „Das ist ein Wurfziegel.“ Und dann das Wort, schwarz auf rot. „Das ist für Leute, die wissen, was das ist.“ Ja, von diesem Prachtband ist Schulenburg ganz begeistert.

Im aktuellen Frühjahrsprogramm findet sich auch viel Globalisierungskritik und die Bücher ehemaliger RAF-Terroristen. „Man muss auch mal ein Risiko eingehen“, sagt Schulenburg. „Nicht nur ökonomisch.“ Provokation gehöre zum Programm, was mitunter dazu führt, dass die Bücher in der Presse nicht besprochen werden. Und das ist für einen Verlag mit winzigem Marketing-Etat katastrophal. So sei Mahmood Mamdanis Buch „Guter Moslem, böser Moslem“ wegen der darin enthaltenen Israel-Kritik nicht rezensiert worden. Auch ein Buch darüber, wie der Hamburger Senat die Airbusfabrik in einem europäischen Naturschutzgebiet durchdrückte, fand erstaunlich wenig Resonanz: Weder im NDR, noch in den Hamburger Springer-Zeitungen erschienen Besprechungen. Auch im Spiegel erschien nur eine kurze Notiz, obwohl mit Renate Nimtz-Köster ein Redakteurin des Magazins Co-Autorin des Buches ist.

Dass „Tannöd“ so erfolgreich wurde, sei wiederum den Kritikern zu verdanken, sagt Mittelstädt: Die Krimi-Journalisten und -Buchhändler seien sehr aufmerksam und aufgeschlossen. Das Buch sei zunächst in der Bestenliste der Kritiker aufgetaucht und habe damit eine Auflage von rund 15.000 Stück erreicht. „Alle sagten, das ist doch gut“, erinnert sich Mittelstädt.

Dann, ein Jahr nach Veröffentlichung des Romans, erschien ein Porträt der Autorin im Spiegel. In der folgenden Woche erhielt das Buch den Deutschen Krimipreis. Es wurde von Elke Heidenreich im Fernsehen besprochen. Die Auflage startete zu einem Flug in schwindelnde Höhen. „Zurzeit machen wir alle zwei Monate einen Jahresumsatz“, sagt Mittelstädt. Die meisten Bücher des Verlags erscheinen in einer Auflagen von wenigen tausend und sind jahrelang lieferbar.

Dass Nautilus auch Krimis verlegt, ist in gewisser Weise folgerichtig. „Wir sagten uns am Anfang: Jede Form des literarischen Ausdrucks ist legitim“, sagt Schulenburg. Zudem, sei in Krimis stets die Gesellschaft präsent. Sie thematisierten das individuelle Leiden, die beschädigte und die wiederhergestellte Gerechtigkeit. „Das passt zu links“, sagt der Verleger. Bei Romanen mit literarischem Anspruch dagegen, habe er „oft das Gefühl, das spielt nicht in der Jetztzeit“.

„Tannöd“ spielt zwar auch nicht in der Jetztzeit, aber in einer Zeit, die uns sehr nah ist: auf einem bayerischen Dorf kurz nach dem Krieg. Und das Thema, das sich aus den Erzählungen der verschiedenen Protagonisten herausschält – das was Ermittler und Justiz „sexuellen Missbrauch“ nennen – ist zeitlos.

Warum „Tannöd“ nicht durch den Rost fiel? Die Autorin Anna-Maria Schenkel habe vorher angerufen, selbstbewusst und freundlich. Sie habe ein gutes Manuskript eingeschickt, weitgehend fehlerlos, mit einem kleinen Exposé und Angaben zur Autorin. „Ich lese normalerweise nur 30 Sekunden lang rein“, sagt Mittelstädt. Dieses Buch nahm sie mit nach Hause und fand es toll – wie auch die übrigen Verlagsmitarbeiter. Ausgerechnet der Vertreter allerdings, der die bayerischen Buchhandlungen betreut, sei nicht begeistert gewesen. „Das ist kein Bayern-Krimi“, habe der gesagt, „Ich will kein großartiges Buch, sondern ein verkäufliches.“ Damit lag er ebenso falsch wie mehrere große Verlage, die das Buch zuvor abgelehnt hatten.

„Tannöd“ war der erste Bestseller in 30 Jahren Verlagsgeschichte. „30 Jahre Engagement fürs Buch“, wie es Mittelstädt ausdrückt. 30 Jahre der Versuch, sich zu behaupten. „In der Branche hießen wir lange Schuldenberg und Mittellos“, sagt die Verlegerin. Ihr Schreibtisch besteht aus einer aufgebockten Platte. Die Belegschaft verdient an die 2.000 Euro brutto.

Trotz des Erfolges wollen Schulenburg und Mittelstädt das Verlagsprogramm nun nicht wachsen lassen. Vielmehr freuen sie sich über den gewonnenen Spielraum, der es ihnen leichter macht, die Bücher zu verlegen, von denen sie und ihre Kollegen denken, dass sie es verdienen. Für den derzeit verkanntesten Titel im Programm halten sie „Der Traum vom Sprechen“ von der Australierin Gail Jones – ein Roman über die „ästhetische Faszination der Moderne“, wie Schulenburg findet. „Wir werden auch ein Zweites oder Drittes von ihr machen“, kündigt Mittelstädt an. „Wir haben ja jetzt ein bisschen Geld im Rücken.“