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Archiv-Artikel

Der Briefwechsel

Nirgendwo verbringen Kinder tagsüber mehr Zeit, nichts ist Eltern wichtiger. Die Schule ist eine Institution. Hier wird Wissen vermittelt, hier beginnen Lebensläufe und Freundschaften fürs Leben. Was denken SchülerInnen über Lehrer, Mitschüler, Lehrpläne, Reformen und Verbote? Was meinen LehrerInnen dazu? An dieser Stelle erscheint in loser Folge ein Austausch zwischen SchülerInnen und LehrerInnen. Lust aufs Briefeschreiben? bildung@taz.de

DIE FRAGE

Gleiches Abi für alle?

Ich wohne in Südniedersachsen direkt an der Grenze zu Nordrhein-Westfalen und mache im Mai mein Abitur. Wenn ich mich mit meinen Freunden aus Nordrhein-Westfalen über die Schule unterhalte, stelle ich immer wieder große Unterschiede in den Bildungssystemen fest. So müssen wir in Niedersachsen beispielsweise in der Oberstufe drei Kurse auf „erhöhtem Niveau“ wählen, während die Schüler in NRW nur zwei Kurse auf „erhöhtem Niveau“ belegen müssen. Folglich haben sie auch ein Prüfungsfach im Abitur weniger. Und im Vergleich mit anderen Bundesländern sind die Unterschiede ähnlich groß.

Auch, dass die allgemeine Hochschulreife mal nach acht Jahren Gymnasium und mal nach neun Jahren erreicht werden kann, schafft nicht grade gleiche Abiturprüfungsbedingungen. Ich frage mich daher, wie das Abitur und vor allem der Numerus clausus (NC) bundesweit verglichen werden kann, wenn es in manchen Ländern leichter ist, ein gutes Abi zu machen als in anderen.

Ein weiteres Problem ist der Umzug einer Familie in ein anderes Bundesland. An unserer Schule kam in der elften Klasse ein neuer Schüler aus einem anderen Bundesland. Weil an seiner Schule ganz andere Schwerpunkte gesetzt worden waren, musste er sich komplett umstellen und viel Stoff wiederholen. Ist es nicht vielleicht besser, die Bildungspolitik den Ländern aus der Hand zu nehmen und bundesweit ein gleiches Kurrikulum zu formulieren? So wäre das Abitur in ganz Deutschland vergleichbar, man könnte gleiche Startbedingungen für Schüler an Hochschulen schaffen und die Mobilität von Familien mit Schülern erleichtern.

Lisa Pramann, 18 Jahre, besucht die 12. Klasse des Campe-Gymnasiums Holzminden

DIE ANTWORT

Weg mit der Kleinstaaterei!

Dass das deutsche Bildungschaos inzwischen auch Schülern auf die Nerven geht, ist ein gutes Zeichen. Wikipedia definiert „Chaos“ übrigens als „Zustand vollständiger Unordnung oder Verwirrung“. Und in Hinblick auf unser Bildungssystem ist mit diesem Begriff eigentlich alles gesagt.

Ich gebe dir vollkommen recht: Es ist kurios, an Schulen, die an einer S-Bahn liegen, vollkommen unterschiedliche Bedingungen für denselben Abschluss vorzufinden. Die Tatsache, dass Abitur definitiv nicht gleich Abitur ist, ist politisch durch nichts zu rechtfertigen. Denn solange Universitäten nicht von dem unsinnigen, ausschließlich auf dem Notenschnitt basierenden Zulassungsverfahren Abstand nehmen, muss der Abi-Schnitt vergleichbar sein. Und das wird nur gewährleistet, wenn die Prüfungsfächer und -aufgaben bundesweit einheitlich sind.

Ich selbst habe als Lehrer viermal das Bundesland gewechselt. Meine Reise durch den deutschen Bildungsirrgarten gehörte zum Absurdesten, was ich mir jemals zugemutet habe. Während es zum Beispiel in Schleswig-Holstein ausreichte, eine Examensurkunde vorzulegen, auf der die glatte Note eingetragen war, verlangte Nordrhein-Westfalen acht Jahre später die Kommanote, die auf der Urkunde allerdings nicht eingetragen war.

Wenn ich aus dem Föderalismuskapitel meines Buches lese, bekomme ich hin und wieder Szenenapplaus. Irgendwie scheinen alle dieses System abzulehnen. Nur die Politiker nicht, und deshalb wird sich am Chaos nur wenig ändern: Denn die Länder haben laut Grundgesetz die Hoheit über die Bildung. Man müsste also das Grundgesetz ändern, um das Bildungssystem zu zentralisieren. Das hätte zur Folge, dass Bildungspolitiker in den Ländern und deren Staatssekretäre Macht verlören. Und bevor Landespolitiker Macht verlieren, lassen sie die Familien und die Kinder, die das Bundesland wechseln müssen, lieber allein in diesem Chaos.

Die Politiker ignorieren, dass wir im 21. Jahrhundert nicht nur in einer globalisierten Welt leben, sondern auch in einem Deutschland, in dem sich der nationale Arbeitsmarkt derart massiv gewandelt hat, dass man als Arbeitnehmer flexibel bleiben sollte.

Arne Ulbricht, 41, unterrichtet an einem Berufskolleg in Nordrhein-Westfalen.