: Kronprinz a. D.
NEUWAHL 87-mal „Ja“: Michael Müller ist endlich nicht mehr designierter, sondern tatsächlicher Wowereit-Nachfolger
■ Zum Start des neuen Regierenden geht einer der versiertesten Staatssekretäre: Knut Nevermann (70, SPD), seit 2010 für Wissenschaft zuständig, wurde in den Ruhestand verabschiedet.
■ SPD und CDU drängten den Senat, sich beim Bundesverkehrsministerium um Gelder für den Weiterbau der A 100 über die Elsenbrücke hinaus zu bemühen. „Der Quatsch wird immer quätscher“, sagte dazu Harald Wolf (Linke).
■ Alle Fraktionen sind zwar dafür, dass künftig Sammelbehälter für Pfandflaschen an öffentlichen Mülleimern hängen. Während aber die Piraten sofort loslegen wollen, möchten SPD und CDU Pilotprojekte abwarten. (dpa/taz)
VON STEFAN ALBERTI
Der rote Teppich passt, die richtigen neun Menschen sind auch auf dem Bild. Bloß in der Mitte stimmt etwas nicht. Denn als sich am Donnerstagmorgen der neue Senat auf der Treppe im Roten Rathaus zum offiziellen Gruppenfoto aufbaut, posiert dort nicht der neue Regierungschef Michael Müller (SPD). Dort, wo auf solchen Fotos, ob für Senats- oder Familienchroniken, die Chefs ihren Platz haben, steht Frank Henkel, der CDU-Vorsitzende und alte und neue Innensenator, der schon qua Statur imposanter daherkommt als der schmale Müller. Als auch noch ein Fotograf dem Senat zuruft: „Können Sie noch ein bisschen nach rechts rücken?“, steht Henkel ein Grinsen im Gesicht.
Es ist eine von vielen Geschichten und kleinen Pannen, die vom Regierungschefwechsel an diesem Vormittag erzählen. Doch facts first: 87 von 146 abgegebenen Stimmen bekommt Müller, als Parlamentspräsident Ralf Wieland um 9:35 Uhr das Ergebnis vorliest, bei 58-mal „Nein“ und einer Enthaltung. Die rot-schwarze Koalition hat nur 85 Abgeordnete, mindestens zwei weitere Parlamentarier müssen also für Müller gestimmt haben. Eine komme vom parlamentarischen Geschäftsführer der Piraten, Heiko Herberg, heißt es schnell. Der bestätigt das später via Twitter. „Das ist ein großer Vertrauensbeweis der Koalition und auch darüber hinaus“, kommentiert Müller später.
Dass es nicht nur 86 Jastimmen geworden sind, ist eine der besonderen Geschichten dieses Donnerstags. Sie handelt vom Neuköllner SPD-Abgeordneten Erol Özkaraca. Der stecke im Stau, war von der Fraktionssprecherin zu hören. Zwei Minuten bevor Parlamentspräsident Wieland die Wahl schließt, eilt Özkaraca doch noch in den Saal, gibt seine Stimme ab und fasst sich Momente später mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Schulter. Später gibt Wieland bekannt, Özkaraca sei vor dem Parlament – offenbar im Bestreben, es noch zur Stimmabgabe zu schaffen – auf glattem Untergrund gestürzt und nun im Krankenhaus.
Eine andere Geschichte ist, wie freundschaftlich-warm der nach dreizehn Amtsjahren ausscheidende Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit Müller nach seiner Wahl umarmt. Vorbei ist nun die Zeit, da vor seinem Nachfolger immer „künftiger“ oder „designierter“ stehen musste – oder Müller bloß der Kronprinz war. Es ist nun der Mann im Amt, den der alte Regierende dort gern sehen wollte und der sich im SPD-Mitgliedervotum durchsetzte, nachdem Wowereit am 26. August seinen Rücktritt ankündigte.
Den Vormittag prägt auch ein Hin und Her zwischen Rotem Rathaus und Parlament, gemäß der Gewaltentrennung zwischen Exekutive und Gesetzgebung. Begonnen hat er um 8 Uhr in der Senatskanzlei mit einem Dankesbrief Wowereits an die bisherigen Senatsmitglieder, die mit dem Rücktritt des Regierungschefs nicht mehr im Amt sind. Dann die rund drei Kilomter rüber ins Abgeordnetenhaus. Dort folgt die Neuwahl samt Vereidigung. Müller legt den Schwur mit dem Zusatz „So wahr mit Gott helfe“ ab. Er ist der Einzige auf SPD-Seite, der das so tut. Als später auch die neuen Senatoren vereidigt werden, verwenden nur die CDUler die religiöse Schwurformel.
MÜLLER ZU SEINEM WAHLERGEBNIS
Zurück im Roten Rathaus, ernennt Müller als neuer Hausherr seine eigenes Senatsteam, das bis auf die beiden Neulinge Matthias Kollatz-Ahnen (Finanzen) und Andreas Geisel (Stadtentwicklung, beide SPD) das alte ist. Dann wieder die drei Kilometer hinüber ins Parlament: Zur Vereidigung der Senatoren und zur anschließenden normalen Sitzung, wo sofort die Neuen, Geisel und Kollatz-Ahnen, gefragt sind. Müller und Henkel müssen aber auch von dort noch weiter: der eine zum Ministerpräsidententreffen mit Kanzlerin Merkel, der andere zur Innenministerkonferenz nach Köln.
Es sind auch Farben, die an diesem Morgen zu Überlegungen und Interpretationen reizen. Eine himmelblaue Krawatte trägt der ausscheidende Regierende, sein Nachfolger Müller hingegen antrazit-grau. Ist das Berlins Zukunft? Henkel wiederum scheint mit leuchtend grüner Krawatte den Kurs Schwarz-Grün verstärken zu wollen, aufdem seine Große Vorsitzende diese Woche beim CDU-Bundesparteitag steuerte. „Schade drum“, sagte Merkel dort rückblickend zur Weigerung der Grünen, nach der Bundestagswahl 2013 mit ihr zu koalieren.
Schließlich ist da noch von einer Rolle Doppelkekse mit Schokofüllung zu erzählen. Sie liegt nach Müllers Wahl auf seinem neuen Platz auf der Senatsbank, dort, wo der Regierungschef sitzt und sich erste Präsente sammeln. „Prinzenrolle“ steht drauf. Es ist der Klassiker unter den Keksprodukten – und doch hier genauso unpassend wie die Fotoaufstellung des Senats im Rathaus. Denn gerade diese jahrelange Rolle als Kronprinz hat Müller spätestens an diesem Vormittag abgelegt.
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