Hey, bist du schwul oder was?

Hamburg St. Georg war ein Paradies für Schwule. Inzwischen fühlen sie sich öfter bedroht – von den Kindern der Migranten, die auch im Stadtteil wohnen. Zum Christopher Street Day werden darum jetzt Flugblätter verteilt – auch auf türkisch

Bereits gestern begannen Aktivisten, auf dem Steindamm in Hamburg St. Georg ein Flugblatt zu verteilen, das auch auf türkisch gedruckt worden ist. In dem Stadtteil würden „Junge und Alte, Deutsche und Einwanderer, Homosexuelle und Heterosexuelle, Moslems und Christen“ leben, heißt es einleitend, um dann vorsichtig das Problem zu benennen: „In letzter Zeit gibt es Diskussionen, ob diese Gruppen eher nebeneinander her leben, oder miteinander im Dialog.“ Im Folgenden ist von „Missverständnissen und Auseinandersetzungen“ die Rede. Deutlicher wird das Flugblatt nicht. Der Gegenvorschlag, am kommenden Samstag mit der Christopher Street Day-Parade auf die Moscheenhochburg Steindamm zu ziehen, war von Schwulenberatungsstellen, Lesbenprojekten und dem Hamburger SPD-Politiker Lutz Kretschmann unterstützt worden, der in einem offenen Brief für die abweichende Route geworben hatte. TAZ

von DANIEL WIESE

Es ist möglich, durch den Hamburger Stadtteil St. Georg zu gehen, und einem fällt überhaupt nichts auf. Die Schwulen sitzen in den Cafés in der Langen Reihe, im Bahnhofsviertel stehen die Prostituierten in den Hauseingängen, in den Seitenstraßen haben die türkischen Friseure und die türkischen Gemüseläden geöffnet, und wenn es Freitag ist, gehen die türkischen Männer zum Freitagsgebet in die Centrummoschee mit ihren kleinen Minaretten.

Man kann aber durch dieselben Straßen gehen und ganz andere Erfahrungen machen. „Jedes Mal, wenn ich an Migranten vorbeilaufe, haben die ein Kratzen im Hals und müssen ausspucken“, sagt Thorsten Petersen, der anders heißt, denn er will sich schützen. Thorsten lebt in St. Georg, und man sieht ihm an, dass er schwul ist. Zumindest sehen es die türkischen Jungs, die vor ihm ausspucken. „Die haben da einen unglaublich feinen Riecher“, sagt Thorsten und lacht, aber sein Lachen klingt nicht lustig, sondern bitter.

Clubgänger in Jogginghose

Viele Freunde von ihm, sagt Thorsten, hätten keine Lust mehr, sie überlegten sich wegzugehen aus St. Georg. Es reiche schon, dem Falschen in die Augen zu schauen, nur ganz kurz, schon heiße es „du schwule Sau“. In den Lederclub auf St. Georg, den Thorsten besucht, würden sich viele nicht mehr in ihrem normalen Outfit trauen, sagt er. Zu oft sei es passiert, dass sie in der Seitenstraße abgefangen wurden, immer seien es Jungsgangs gewesen, türkische Jungsgangs, und es sei immer dasselbe Ritual: Was macht ihr hier, das ist unser Viertel, Geld her.

Manche Lederclubbesucher ziehen sich inzwischen Jogginghosen über ihre gebleichten Domestos-Jeans. „Das kann doch nicht wahr sein!“, ruft Thorsten, die Halsschlagader unter der tätowierten Haut schwillt an. Man sollte zurückschlagen, sagt er, leider seien die Schwulen ja immer so lieb, das sei das Problem, sie wollten ja nie jemand wehtun.

Es herrscht Unruhe in der schwulen Szene in St. Georg. In fast jeder Ausgabe des Schwulenmagazins Hinnerk steht derzeit ein Artikel zum Thema „Kulturkampf“. „Was würden Sie tun, wenn Ihr Sohn schwul wäre?“, hatte das Magazin türkische Geschäftsleute in St. Georg befragt, nicht wenige antworteten: „Erschießen!“

Händchenhalten verboten

Ins Rollen war die Sache gekommen, nachdem die Centrummoschee die zweite Runde einer öffentlichen Diskussion zum Thema „Schwule, Lesben und Muslime“ abgesagt hatte. Das Thema sei so nicht ausgemacht gewesen, hatte der Vorstand der Moschee gesagt, man wolle sich nicht von „Schwulenaktivisten auf der Nase rumtanzen lassen“. Kurz darauf erschien in der Hamburger Morgenpost ein Artikel, Titel: „Pulverfass St. Georg: Moslems gegen Schwule“. In dem Artikel wurde von einem schwulen Pärchen berichtet, das vor der Moschee Händchen gehalten hatte und daraufhin von „älteren Ladeninhabern und muskelbepackten Bodybuildertypen“ zur Rede gestellt worden war. Dabei sollen Sätze gefallen sein wie „Ihr beleidigt den Islam.“

Im Parterre der Centrummoschee reihen sich Reisebüros an Buchhandlungen an Friseure. Man muss eine steile Treppe hoch, an vielen Türen vorbei, bis endlich das Büro des Gemeindevorstands kommt. Ein älterer türkischer Herr erhebt sich, reicht die Hand, bietet Tee an. Der Imam sei verreist und das Thema schwierig, sagt er, auf jeden Fall wolle man mit diesen Übergriffen nichts zu tun haben. „Aber Sie müssen verstehen, wir können nicht für jeden garantieren, der bei uns vor der Tür herumlungert.“

Die Centrummoschee in St. Georg gehört zur islamistischen „Milli Görüs“, vertritt jedoch eine eher gemäßigte Linie. Schwulsein sei im Islam eine Sünde, hatte ihr Vertreter bei der ersten Runde des Dialogs zwischen Schwulen und Muslimen gesagt, aber das gelte ja ebenso für Ehebruch oder Alkoholkonsum – beides Dinge, die manche Moslems täten, obwohl sie verboten seien.

Vorstoß ins Feindesland

Mittlerweile ist das Klima allerdings vergiftet. „Alle zeigen mit dem Finger auf uns, warum?“, sagt ein Moscheebesucher, der namentlich nicht genannt werden will. Die Schwulenaktivisten hätten ihnen die „Pistole an den Kopf gesetzt“, sagt der Mann. „Da konnten wir nicht mehr mitmachen. Wir mussten ein Zeichen setzen.“

Im Café Gnosa, einem beliebten Treffpunkt auf dem Schwulen-Boulevard Lange Reihe, sitzt der Bürgerschafts-Abgeordnete Farid Müller von der Grün-Alternativen Liste. Er hat den „Schwulen, Lesben und Muslime“-Dialog organisiert und denkt nicht ans Aufgeben. Bei muslimischen Jugendlichen hätten Schwule ein schlechtes Image, sagt Müller, „weil ihre Väter sagen, die sind nichts wert“. Diese Haltung wiederum habe einen religiösen Hintergrund. „Deswegen ist die Centrummoschee so wichtig, denn die Wertevorgabe kommt vom Koran.“ Zu sagen: „Lass die Finger von denen“, reiche oft nicht aus.

Warum auch immer die türkischen Gangs zuschlagen, die Verärgerung in der Schwulenszene ist so groß, dass sogar eine neue Route für den traditionellen Umzug beim Christopher Street Day in einer Woche diskutiert wurde. Statt wie bisher über nur die Lange Reihe zu ziehen, wo die Schwulen ein Heimspiel haben, sollte die Parade diesmal auch über den Steindamm gehen, die Hochburg der Moscheenszene. „Es ist wichtig, dass wir uns jetzt da zeigen“, sagt ein Schwulenaktivist.

Auf Hetero getrimmt

Der Verein Hamburg Pride, der den Christopher Street Day und die Parade organisiert, hat sich allerdings dagegen entschieden, jetzt werden auf dem Steindamm lediglich Flugblätter verteilt – auch in türkischer Sprache. „Wir haben Angst, dass das als Provokation gesehen wird“, sagt Mark T. Jones, der Sprecher des Vereins. Zunächst setze der Verein auf Dialog, eine Demo könne man dann immer noch machen. Ihn habe die Diskussion überrascht, sagt Jones, der ebenfalls auf St. Georg wohnt. „Mir ist bisher noch nichts passiert, ich weiß nicht, vielleicht liegt es ja an meiner Größe.“

Jones ist 1,97 Meter groß, aber ähnlich äußern sich auch Schwule mit eher durchschnittlichen Maßen. „Ich lebe in einem schwulen Wohnprojekt mitten in St. Georgs ‚no-go-area‘“, heißt es in einem Leserbrief, der im Schwulenmagazin Hinnerk abgedruckt wurde. „Wir leben in guter Nachbarschaft und haben noch keine Belästigung erlebt.“

Mit solchen Aussagen konfrontiert, fängt Thorsten Petersen, der Mann aus der Lederszene, an zu schnauben. Den Leserbriefschreiber kenne er, ein „unschwuler“ Typ, der sich „mit Rauschebart und Karohemd auf Hetero“ getrimmt habe. „Wenn man so geduckt herumläuft, sollte man nicht für die Allgemeinheit sprechen wollen.“

Schwierigkeiten hätten demnach die Schwulen, die als solche sichtbar sind – und die in den falschen Gegenden des Viertels verkehren. „Bald ist es so weit, dass wir uns wieder in unsere Nischen zurückziehen“, sagt Thorsten. Auch er überlegt bereits, den Stadtteil zu verlassen.