: Meine erste Million
Ein alter Mann über die Idee seines Lebens, die Deutsche Bahn und Quentin Tarantino
Woher kommen Sie? Das ist ja witzig. Wussten Sie, dass ich früher für Ihre Zeitung gearbeitet habe? Am Anfang des Jahrhunderts. Das ist schon eine Ewigkeit her. Aber ich erinnere mich genau und könnte Ihnen eine Menge Geschichten erzählen. Was alte Männer gern so tun. Aber Sie sind ja wegen der Million da, meiner ersten Million. Gute Idee für eine Serie. Da kann ich tatsächlich etwas beitragen. Das war eine tolle Zeit damals. Übrigens, kurz nachdem ich bei Ihrer Zeitung aufgehört habe. 40 Jahre ist das jetzt her.
Damals war Tarantino ja schon weltberühmt. Sie wissen selbstverständlich, wen ich meine? Quentin Tarantino? Der Regisseur? Gut. Tarantino war zu Beginn dieses Jahrhunderts schon eine absolute Größe. Der erste Popregisseur, wie man damals sagte. Ich sehe schon, Sie grinsen. Das klingt sehr altbacken, ich weiß. Aber damals war alles „Pop“. Alles, was irgendwie massenkompatibel war. Wie auch Tarantino. Was Hitchcock für das 20. Jahrhundert war, wurde Tarantino für das 21. Jahrhundert: der bekannteste Filmregisseur der Welt. Dabei hatte er seine großen Werke noch gar nicht gedreht. Erst 20 Jahre später kam ja zum Beispiel sein wunderbares Hauptwerk, dieser Liebesfilm „Me and Me“. Das ist ganz sicher einer der zehn besten Filme der Welt. Aber ich schweife ab …
Damals also hatte ich gerade das Kino wieder entdeckt für mich. Ich arbeitete nicht mehr als Redakteur und wollte mich auf Filme konzentrieren. Alle Welt redete zu der Zeit nur noch übers Internet. Ich sehe, Sie lächeln schon wieder. Auch so eine veraltete Sache. Aber damals war das Internet neu und hochmodern. Der zweite oder dritte Internet-Boom, bei dem die meisten dachten, das Internet würde alles schlucken. Doch mir war längst klar, dass das Kino eine noch größere Sache werden würde, als es sowieso schon war – und so kam es ja dann auch.
Ich hatte in meiner Jugend viel Zeit im Kino verbracht. Ich war als Zwölfjähriger bereits in einem sogenannten Filmclub in unserer kleinen Stadt. Da musste ich sonntagsmorgens 45 Minuten hinlaufen und mittags 45 Minuten zurück. So sah ich dann all die Filme, die in normalen Kinos nicht gezeigt wurden. Manches viel zu früh für einen Zwölfjährigen: ein Kunstwerk wie „Hamlet“ mit dem großartigen Laurence Olivier oder einen seltsamen brasilianischen Avantgarde-Film mit dem Titel „Macunaíma“. Eine Szene werde ich nie vergessen: Wie der Junge aus dem Dschungel, der in die Großstadt geht, sich vor lauter Hunger einen Stein in die eigenen Eier schlägt, um sie essen zu können. Ich habe wie irrsinnig gelacht, und die älteren Filmclubbesucher sahen sich pikiert nach mir um, weil ich offenbar die gesellschaftliche Dimension aus Armut und Elend nicht verstanden hatte. Aber ich schweife schon wieder ab. Entschuldigen Sie bitte, ich bin schließlich ein alter Mann, ich darf das. Ich habe Ihre Millionengeschichte aber nicht aus den Augen verloren.
Manchmal allerdings, wenn ich den Film im Filmclub schon kannte oder er mir zu langweilig vorkam, dann ging ich in das Bahnhofskino. Das durften meine Eltern aber nicht wissen. Ich kam aus einer Arbeiterfamilie, und meine Eltern hatten diese sehr korrekte Vorstellung, dass es ihren Kindern einmal besser gehen sollte und dass Bildung der einzige Weg dahin sei. Zur Bildung gehörten auch Filme, sie mussten jedoch „gehobener Natur“ sein. Im Bahnhofskino aber liefen all die Godzilla- und Karate-Filme oder Spaghetti-Western. Das Kino hieß damals „Bali“, eine Abkürzung für „Bahnhoflichtspiele“. Und in unserem „Bali“ habe ich dann heimlich diese grandiosen Schundfilme gesehen: „Mr. Kugelblitz schlägt zu“ oder „Leichen pflastern seinen Weg“. Jedenfalls war die Atmosphäre im „Bali“ wundervoll: die Schlampe hinter der Glasscheibe am Ticketschalter, der man die durchgemachte Samstagnacht ansah und die nie so genau hinguckte, wie alt man war; der heruntergekommene Kinosaal; all die gefährlich wirkenden Besucher. Im „Bali“ sah ich, glaube ich, die ersten Tätowierungen meines Lebens. Damals hatten das ja nur Huren, Seeleute und Knastbrüder. Beinahe wie heute schon wieder.
Keine Angst, wir nähern uns langsam der Millionengeschichte. Als ich dann nach Berlin ging, finanzierte ich mein Studium unter anderem als Kartenabreißer und Rausschmeißer in Kinos. Damals gab es in Berlin noch diese großen Kinopaläste am Kurfürstendamm: „Royal“ oder „Astor“ hießen die. Und ich arbeitete in vielen, bis ich irgendwann rausflog, ich weiß gar nicht mehr, warum, irgendeine Belanglosigkeit. Aber es war gut für mich, weil ich erkannte, dass ich jetzt etwas Vernünftiges tun musste. Studium beenden, Arbeit suchen, Ideen entwickeln. Und dann, ja dann kam die Geschichte mit Tarantino.
Tarantino hatte zum Beginn des Jahrhunderts nach seinen Anfangserfolgen gerade einen echten Scheißfilm gedreht: „Death Proof“. Entschuldigung, aber man kann es nicht anders sagen. Der Film lief schon in Amerika schlecht und wurde dort nur in gekürzter Fassung zusammen mit einem Film seines Kumpels gezeigt … – Rodrigo oder so ähnlich hieß der, glaube ich. Der ist auch schon lange tot. Der Doppelfilm von Tarantino und Rodrigo bekam den Namen „Grindhouse“ und sollte wohl auf die alten schmuddeligen Kinos anspielen – und da hatte ich meine Idee. Möchten Sie noch ein Wasser? Nein? Na, ich erzähl schon weiter.
Also damals hatte die Deutsche Bahn gerade ihren Hauptbahnhof in Berlin gebaut. Mitten in der Stadt, in der totalen Einöde. Drumherum war nichts, gar nichts. Kein Bahnhofsviertel, nur das Regierungsviertel. Öder ging’s gar nicht. Aber man wollte weg von dem Schmuddelimage der alten Bahnhöfe in den Innenstädten, die Penner und Huren und Gestrandete anzogen wie Motten das Licht. Also hatte man diesen sterilen Glas- und Stahlbau hochgezogen mit diesen langweiligen Einkaufspassagen. Was aber fehlte – und das wurde mir eines Tages klar, als ich auf einen Zug mit Verspätung wartete –, war ein Kino, in das man hineingehen konnte, um vielleicht eine halbe Stunde von einem Film zu sehen, der dort 24 Stunden, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr lief. Beim nächsten Mal könnte man dann wieder hingehen, um zu erfahren, ob nun sie ihn oder doch er sie gekillt hatte. Kurz: Was fehlte, war ein „Bali“. Ein klassisches billiges Bahnhofskino.
Fragen Sie mich jetzt nicht, wie ich es geschafft habe, die lackierten Facility-Manager der Deutschen Bahn zu überzeugen. Ich sage nur so viel: Ich hatte alles Geld zusammengekratzt, das vorhanden war, auch von Freunden und Bekannten, und es in einen schwarzen Koffer gepackt. Am Ende unseres Gesprächs schob ich den Koffer diesen Hausmeistern in Nadelstreifenanzügen hinüber. Aber letztlich war die Idee entscheidend.
Ich erklärte den Bahn-Managern, dass man für einen Film von Quentin Tarantino das richtige Umfeld schaffen müsste. Eben mit einem Bahnhofskino. Das kein echtes Bahnhofskino wäre, sondern ein – so nannte man das damals – „Kult-Kino“. Das sollte eine Art „Simulation“ des guten, alten „Bali“ werden. Mit dem üblichen Inventar: der Schlampe hinterm Tresen; dem heruntergekommenen Kartenabreißer, der den Frauen in den Ausschnitt schielt; dem muffigen Geruch nach kaltem Rauch im Kinosaal; dem unwirsch herumschlurfenden Filmvorführer im grauen Kittel; den verhuschten Männern im Publikum, die ihre Mäntel auf dem Schoß liegen haben und darunter verdächtig schnelle Handbewegungen machen; dem Verrückten, der sich während des Films ständig umsetzt und irgendwann fluchend rausläuft und dabei irre Warnungen ausstößt; die Filmrolle, die mittendrin reißt … Es war alles eine gut inszenierte Show.
Alles Weitere wissen sie ja wahrscheinlich. Es wurde der größte Kinoerfolg aller Zeiten. Dank Quentin Tarantino, der Deutschen Bahn und mir. Allein „Death Proof“ lief zehn Jahre im „Bali“ Berlin. Und wir hatten immer ein volles Haus. Heute habe ich Lizenzen für „Balis“ in aller Welt. Tja, so einfach war das damals. Du hast eine Idee und machst deine erste Million.
MICHAEL RINGEL