: Schnipsel für einen Godard-Film
KÜSSE UND BISSE (9) – Notizen zum Kleist-Jahr: Kleist gehört dem Theater? Nein, eigentlich ist Kleist Kino – ein Schöpfer schöner Szenen, Perspektiven, Wendungen. Und ein Storyteller von hohem Rang
Ob Kleist nun wirklich so eine Art literarischer Guerillakämpfer war oder einfach nur jemand, der ständig etwas Neues ausprobieren musste und dabei immer voll aufdrehte, ist mir eigentlich egal. Ebenso, ob hinter der Geheimniskrämerei der Würzburger Reise tatsächlich etwas Handfestes verborgen oder das Ganze eher eine quasi postmoderne Inszenierung war. Und das Theater? Ist fast immer ein bisschen zu theatralisch. Ich ziehe das Kino vor.
Also Kleists Prosa. Prosa ist Kino statt Theater. Es gibt die abendfüllenden Spielfilme, „Michael Kohlhaas“ oder „Die Marquise von O.“ etwa (die Eric Rohmer ja tatsächlich sehr werkgetreu inszeniert hat), dann die eher filmischen Essays wie den Aufsatz übers Marionettentheater, eine ganze Reihe Kurzfilme, nämlich die Anekdoten oder die Meldungen aus den Berliner Abendblättern, und schließlich einzelne, übrig gebliebene Schnipsel, die man allerhöchstens noch in irgendeinen Film von Straub oder Godard hineinschmuggeln könnte.
Im Kino verlieben wir uns in besonders gelungene Szenen, in einzelne Bewegungen, Perspektiven, Lichtverhältnisse, Farben. In Kleists Prosa verlieben wir uns in einzelne Wendungen: „… einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit.“ – „… unter stillen Tränen, den Kopf auf einen Tisch gestützt …“ – „Er bestieg eben, sehr von Schmerz bewegt, den Wagen und nahm, bei dem Anblick des Platzes, der neben ihm leer blieb, sein Schnupftuch heraus …“ – „… da sein Gefühl ihm sagte, dass ihm von allen Seiten, um der gebrechlichen Einrichtung der Welt willen, verziehen sei …“.
Natürlich, damit kein falscher Eindruck entsteht, war Kleist nicht nur ein Schöpfer besonders schöner Sätze und Satzteile, sondern im Gegenteil ein Storyteller von hohem Rang, vielleicht der beste, den wir hatten. Seine Geschichten haben Tempo, Überraschungsmomente und Wucht, gemildert durch Raffinesse. Der „Kohlhaas“, die „Marquise von O.“ (die ihm zu seinen Lebzeiten keineswegs „von allen Seiten verziehen“ worden ist), die „Verlobung in St. Domingo“: Dagegen ist doch, mit Verlaub gesagt, die Lektüre zum Beispiel der „Wahlverwandtschaften“ eine recht zähe Lektüre.
Unter den Schnipseln, die man in einen Godard-Film schmuggeln könnte, findet sich ein kurzes Fragment aus den Berliner Abendblättern vom 10. Dezember 1810: „Man könnte die Menschen in zwei Klassen abteilen; in solche, die sich auf eine Metapher und 2) in solche, die sich auf eine Formel verstehn. Deren, die sich auf beides verstehn, sind zu wenige, sie machen keine Klasse aus.“ Dass er zu diesen wenigen gehörte, auch in seiner Selbsteinschätzung, versteht sich. Vielleicht war das der Grund, warum er ein knappes Jahr später zu dem Schluss kam, ihm sei auf Erden nicht zu helfen gewesen. Denkt man länger darüber nach, könnte dieses Fragment beinahe als der Aufsatz übers Marionettentheater in nuce gelten. Viel später hat ein anderer Autor eine eher zaghafte Paraphrase darauf geschrieben, in eine Frage gekleidet und in einem Riesenfragment von über 1.600 Seiten versteckt: „Ein Mann, der die Wahrheit will, wird Gelehrter; ein Mann, der seine Subjektivität spielen lassen will, wird vielleicht Schriftsteller; was aber soll ein Mann tun, der etwas will, das dazwischen liegt?“, fragte Robert Musil. Das ist natürlich weit unentschiedener. Deshalb ist er auch nicht fertig geworden. Unser Kleist dagegen ging immer aufs Ganze (einmal zu oft, könnte man sagen), und das lieben nicht nur wir Modernen, sondern – als Sehnsuchtsbild – auch noch wir Postmodernen.
JOCHEN SCHIMMANG
■ 2011 ist Kleist-Jahr. Am 21. November 1811 hat sich der Dichter erschossen. Wir drucken, üblicherweise am 21. eines Monats, Notizen zu Leben und Werk dieses seltsamsten deutschen Klassikers. Der Autor ist Schriftsteller. In Kürze erscheint sein neuer Roman „Neue Mitte“ (Edition Nautilus)