: Rüder Machtkampf im Apparat
TÜRKEI Premier Erdogan will die islamischen Kritiker der Gülen-Sekte mit einer breit angelegten Verhaftungswelle ausschalten. Er fürchtet sich vor neuen Verschwörungen
AHMET SIK, JOURNALIST
AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH
Am Sonntagmorgen hat in der Türkei eine seit Tagen erwartete Verhaftungswelle gegen führende Anhänger der islamischen Gülen-Sekte begonnen. Mehr als 30 Menschen wurden festgenommen, darunter der Chefredakteur der Tageszeitung Zaman, Ekrem Dumanli. Auch der zur Gülen-Bewegung gehörende Fernsehsender Samanyolu wurde durchsucht, einige Leute wurden festgenommen.
Schon seit Wochen hatte Präsident Tayyip Erdogan damit gedroht, die von ihm so genannte „Parallelstruktur“ in Behörden und staatlichen Institutionen endgültig zu zerschlagen. Zuvor waren im Internet von einem Wistleblower unter dem Pseudonym „Fuat Anvi“ Meldungen lanciert worden, dass die Regierung die Verhaftungswelle beschlossen habe. Unter den Festgenommenen war der frühere Fußballstar Hakan Sükür, eines der bekanntesten Gesichter der Gülen-Sekte in der Türkei.
Die jetzigen Festnahmen sind Ausdruck eines erbitterten Machtkampfs innerhalb des islamischen Lagers in der Türkei. Noch vor wenigen Jahren waren die regierende AKP und die Gülen-Sekte ein Herz und eine Seele und der jetzt festgenommene Ekrem Dumanli ein enger Berater von Erdogan. Das Verhältnis verschlechterte sich nach dem letzten Wahlsieg der AKP im Juni 2011. Erdogan, der mit tatkräftiger Hilfe der Gülen-Sekte zuvor die Spitze des Militärs und viele seiner linken Kritiker ins Gefängnis gebracht hatte, geriet in Konflikt mit seinen ehemaligen Partnern, die ihm zu mächtig wurden. Innerhalb der Justiz und Polizei gab es etliche Gülen-Anhänger, von denen Erdogan befürchtete, sie könnten ihre eigene Politik machen.
Deutlich wurde das, als Gülen-nahe Staatsanwälte versuchten, den Geheimdienstchef Hakan Fidan festzunehmen, weil dieser angeblich die PKK unterstützte. Tatsächlich hatte der Geheimdienst im Auftrag von Erdogan Waffenstillstandsverhandlungen mit der PKK geführt, was die Gülen-Bewegung offenbar verhindern wollte. Seitdem spitzte sich der Konflikt zu und erreichte vor genau einem Jahr seinen Höhepunkt, als verschiedene Staatsanwälte im Zuge einer Korruptionsermittlung 70 Personen aus dem Umfeld von Erdogan festnehmen ließ, darunter auch Söhne von amtierenden Ministern.
Für Erdogan war das ein Putschversuch, den er seinerseits mit Entlassungen und Verhaftungen von Staatsanwälten und Polizisten „abwehrte“. Mitglieder der Gülen-Bewegung gelten seitdem als Feinde des Erdogan-Regimes. Der gestern erfolgte Schlag gegen die Medien der Gülen-Bewegung soll diese nun auch ihrer öffentlichen Stimme berauben. Ahmet Sik, der bekannteste linke Journalist, der von Gülen-Staatsanwälten ins Gefängnis gesteckt worden war, schrieb gestern auf Twitter: „Die Gülen-Sekte war ein mächtiger Akteur der faschistischen Phase bis vor einem Jahr. Was jetzt passiert, ist auch faschistisch. Man muss sich dagegen auflehnen.“
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