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Archiv-Artikel

90 Minuten schieres Glück

MUSIKLEGENDE Am Sonntag spielte Mulatu Astatke, Teil einer einzigartigen Clubgeschichte aus Addis Abeba, im Berliner Yaam

Astatke freute sich daran, wie gut Einzelleistung und Gruppenperformance ineinandergriffen

VON CRISTINA NORD

Könnte man durch Raum und Zeit reisen, ich würde vieles darum geben, ins Jahr 1970 oder 1971 zurückversetzt zu werden und eine Woche in Addis Abeba zu verbringen. Die äthiopische Hauptstadt beherbergte damals eine so einzigartige Musik- und Clubszene, dass es ihr den Beinamen Swinging Addis eintrug. Musiker wie Alèmayèhu Esthèté oder Mahmoud Ahmed verbanden traditionelle ostafrikanische Rhythmen mit Jazz, Soul und Funk, borgten sich Melodien aus Kuba oder Brasilien und nutzten das, was sie in großen Formationen, etwa im Polizeiorchester, gelernt hatten, um kleinere Bands zu gründen. Das unabhängige Plattenlabel Amha Records begleitete diese Entwicklung.

Nachdem der autokratisch herrschende Kaiser Haile Selassie 1974 gestürzt worden war, übernahm der Derg, ein sozialistisches Militärregime, die Regierung und griff hart gegen politische Gegner durch. So wie die Roten Khmer in Kambodscha die Goldenen Jahre des kambodschanischen Kinos zunichte machten, so tat der Derg alles, um Swinging Addis auszulöschen.

Zum Glück ist das nicht gelungen; zumindest ein Teil des Erbes jener Jahre ist erhalten. Das Pariser Label Buda Music etwa gibt die „Éthiopiques“-Reihe heraus, und das ebenfalls in Paris beheimatete Label Heavenly Sweetness kümmert sich um Wiederveröffentlichungen aus Swinging Addis auf Vinyl. Mulatu Astatke, der profilierteste Musiker jener Jahre, feiert in wenigen Tagen seinen 72. Geburtstag. Am Sonntagabend gastierte er im Yaam, einem Berliner Club, und die gut 90 Minuten, die sein Auftritt dauerte, waren schieres Glück.

Astatke, im westäthiopischen Jimma geboren, studierte in den sechziger Jahren in London, Boston und New York Musik, und als er 1969 nach Äthiopien zurückkehrte, trieb ihn eine eigene Vorstellung von kosmopolitischer Musik, der Ethio-Jazz, der sich in Hits wie „Yègellè Tezeta“, „Yèkèrmo Sèw“ oder in einem Cover-Stück wie „Girl from Addis Ababa“ manifestierte. Jenseits eingeweihter Zirkel wurde Astatke spätestens dann zu einer Größe, als Jim Jarmusch 2005 drei Stücke von ihm in den Soundtrack zu dem Film „Broken Flowers“ aufnahm.

Am Sonntag begleitete ihn eine siebenköpfige britische Band, und es war wunderbar zu erleben, mit wie viel Freude die Männer als Gruppe interagierten. Astatke befand sich zwar meist im Zentrum der Bühne, doch zugleich hielt er sich zurück, beanspruchte weder die Position des Stars noch die des Chefs, eher die eines freundlichen Arrangeurs und Ermöglichers.

So hatten die Musiker viel Raum, sich auszutoben. Zum Beispiel Byron Wallen, der nicht nur der Trompete unwahrscheinliche Töne entlockte, sondern auch ein Muschelhorn zum Einsatz brachte, oder John Edwards am Kontrabass, der an den Saiten seines Instruments riss und rupfte und seine Finger so schnell darüber flattern ließ, dass man sie nur noch in der Bewegungsunschärfe wahrnehmen konnte. Großartig geriet ein Battle zwischen John Edwards und dem Schlagzeuger Jon Scott, großartig das Zusammenspiel von Byron Wallen und dem Saxofonisten Julian Siegal.

Astatke stand derweil hinter dem Vibraphon, an den Steeldrums oder am Keyboard, lächelte halb schalkhaft, halb versunken, und freute sich daran, wie gut Einzelleistung und Gruppenperformance ineinandergriffen. Die zehn Stücke, die die Männer spielten, etwa „Asmarina“, „Mulatu“ oder „Yègellè Tezeta“, ließen das, was man von den Studioaufzeichnungen kennt, rasch hinter sich. Sie öffneten sich der Improvisation, der Exaltation, der Entfesselung.

Zur Ruhe kamen die acht Musiker nur zweimal, einmal in der Mitte des Konzerts, mit dem Stück „Motherland“, dann am Ende, als Astatke sich an den Flügel setzte, zur einzigen, viel zu schnell verstreichenden Zugabe.