Bedenkliche Hetze gegen Muslime

AUSTRALIEN II So ernst die Gefahr eines Terroraktes down under zu nehmen ist, so könnte der Geiselnehmer von Sydney möglicherweise nicht nur Täter, sondern auch Produkt antimuslimischer Stimmung sein

BERLIN taz | „Der Moment, der uns für immer verändert hat“. Die Schlagzeile der Sonderausgabe des Boulevardblatts Daily Telegraph zur Geiselnahme in Sydney könnte symbolischer nicht sein. Obwohl noch nichts über die Hintergründe des Verbrechens bekannt war, rief das Blatt eine Wende in Australiens Geschichte aus. Das ist symbolisch für die emotionsgetriebene Irrationalität der Terrordebatte und für die Aggressivität vieler Medien dort.

Das Drama in Sydneys Lindt-Café könnte nicht zuletzt ein indirektes Resultat der Hetze sein, mit denen australische Muslime seit Monaten konfrontiert sind. Am Montag sprachen Experten nicht nur von der Möglichkeit, dass ein Rückkehrer aus einer islamistischen Gruppe in Syrien oder Irak die Geiseln nahm. Sie sprachen auch von einem „Trittbrettfahrer“, von einem Einzeltäter, einem Frustrierten aus den Vororten, der im gewaltbereiten Islamismus die einzige Chance sieht, einer Spirale von persönlicher Frustration, Aussichtslosigkeit und gesellschaftlicher Ausgrenzung zu entkommen.

Das Land, das bisher auf die Harmonie seiner Ethnien stolz sein konnte, hört seit Wochen tägliche Berichte von muslimischen Frauen, denen auf der Straße der Hidschab vom Kopf gerissen wurde, und von Muslimen, die von weißen Australiern angespuckt werden.

Dabei ist das Gros der 500.000 australischen Muslime mindestens so patriotisch wie die sogenannten weißen Durchschnittsaustralier. 70 junge Australier sind bisher nach Syrien gereist, um sich der IS-Terrormiliz anzuschließen. Australiens Regierung zufolge wurde bereits jeder Vierte in Gefechten getötet. Je größer die Frustration über die Stigmatisierung von Muslimen werde, desto größer sei auch die Chance, dass junge Männer und Frauen in die Hände des Extremismus getrieben werden, sagen Experten.

Der Telegraph, ein Blatt des Medienmoguls Rupert Murdoch, der 80 Prozent des Zeitungsmarktes down under kontrolliert, ist eines von vielen Medien, das die Diskussion um die durchaus ernstzunehmende Gefahr eines islamistisch motivierten Terrorangriffs auf heimischen Boden eskalieren ließ. Berichte und Kommentare sind oft rassistisch gefärbt und voll Panikmache. Zugleich führt die Regierung seit Monaten eine Kampagne gegen „potenzielle Attentäter“ unter australischen Muslimen. Im September stürmten 800 Sondereinsatzkräfte Häuser in Sydney und Brisbane. 15 Leute wurden festgenommen, die Medien waren dazu geladen. Doch von den Festgenommenen sind nur noch zwei in Haft, keiner wegen terroristischer Aktivitäten. Die Aussage, eine Terrorzelle hätte geplant, auf offener Straße jemanden zu köpfen, erwies sich als Spekulation, eine vermeintliche Tatwaffe als Spielzeug.

Zeitgleich hatte die Regierung die Terror-Warnstufe erhöht und die Beschneidung der Bürgerrechte eingeleitet. Kein Land hat jüngst derart einschneidende „Anti-Terror“-Gesetze verabschiedet, oder dürfte es bald tun, wie Australien. Ohne Unterstützung konservativer Medien wäre dies kaum möglich gewesen.

URS WÄLTERLIN