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Archiv-Artikel

Friesischer Humboldt, syrischer Sausewind

HEIMATEN Vom Jever in den Jemen: Der Bauernsohn Ulrich Jasper Seetzen erforschte vor 200 Jahren als Pilger verkleidet die arabische Welt. Mamoun Fansa ging den umgekehrten Weg und wurde Museumsdirektor in Oldenburg. Beide verbindet der kulturelle Spagat – und ein Abschieds-Symposium

VON HENNING BLEYL

An Warnungen fehlte es nicht: „Das ist die Vorhaut nicht wert, die er dafür vermutlich wird einbüßen müssen“, unkte ein erfahrener Forschungsreisender. Ulrich Jasper Seetzen, Bauernsohn aus dem kleinen Kaff Sophiengrode bei Jever, machte sich 1802 trotzdem auf den Weg, um die arabische Welt zu erkunden. Ob seine Assimilations-Bereitschaft soweit ging wie oben angedeutet, ist nicht bekannt. Aber immerhin sprach Seetzen fließend arabisch und galt als einer der wichtigsten Wegbereiter der deutschen Orientalistik, als er neun Jahre später gewaltsam ums Leben kam.

So ein einsamer Tod in der Wüste, dessen Umstände nach wie vor ungeklärt sind, wäre wohl trotz des 200. Jahrestages kein Anlass für ein wissenschaftliches Symposium – gäbe es nicht Mamoun Fansa, den am Mittwoch verabschiedeten Direktor des Oldenburger Landesmuseums für Natur und Mensch. Er engagiert sich schon lange für die Neu-Edition von Seetzens Reisetagebüchern, die zum einen Teil verfälscht und zum anderen Teil noch gar nicht veröffentlicht sind. Zwei Bände einer sorgfältigen Neuauflage sind nun fertig, was angesichts von Seetzens ausgesprochen schwierig zu lesender Handschrift kaum weniger mühselig gewesen sein soll als das damalige Bereisen der arabischen Welt. Dazu wünschte sich Fansa ein Symposium zu Seetzens Würdigung.

Diskussion mit Derwisch

Seetzen erkannte als Erster, dass das Rote Meer auf einer Salzsole fußt. Er beschrieb sowohl sämtliche antiken Bauten, die er sah, als auch das alltägliche Leben der Bevölkerung. Er kroch in jede Zisterne, diskutierte mit Derwischen und schickte Kistenweise Mineralien und Pflanzen nach Hause. Vor allem aber 2.600 arabische Schriften, unter ihnen eine damals von allen begehrte vollständige Fassung von „1001 Nacht“. Sie machen die Forschungsbibliothek Gotha, wo sie lagern, noch heute zu einer der wichtigsten Standorte für Orientalia.

Seetzen interessierte sich für alles, erkannte einiges und ist heute trotzdem nur Wenigen ein Begriff. Sein Kommilitone Alexander von Humboldt, mit dem er in Göttingen studierte und 1789 die „Physikalische Gesellschaft“ gründete, hatte mehr Glück. Die gewaltigen vierfarbig lithografierten Folianten, mit denen Humboldt sein Lebenswerk dokumentierte, waren natürlich eine ganz andere Rezeptionsgrundlage als die Seetzens frühem Tod geschuldete Ungeordnetheit seiner Tagebücher.

Von Jever in den Jemen, von Aleppo nach Oldenburg – die Parallelen zwischen Mamoun Fansa und Ulrich Jasper Seetzen sind ungeachtet der entgegengesetzten Richtungen ihrer geographischen Lebenswege schnell gezogen. Ein Syrer, der aus politischen Gründen seine Heimatstadt verlässt und sich für niedersächsische Moorarchäologie begeistert, und ein Friesländer, der den Nahen Osten erforscht, sind sich in Sachen geistiger Offenheit vermutlich ähnlich.

Sinnliche Installationen

Fansas unbefangener Blick hat dem Oldenburger Haus sehr gut getan: Aus dem „Staatlichen Museum für Naturkunde und Vorgeschichte“ voll lehrreicher wissenschaftlicher Vitrinen hat er das moderne „Landesmuseum für Natur und Mensch“ gemacht, das die Natur- und Kulturgeschichte vielfältig verzahnt darstellt. Ein gewaltiger Moorblock zum Beispiel vereinigt Lurche, Leichen und Opfergaben.

Ähnlich, wie sich Seetzen in seinen Reisebeschreibungen als stets empfänglich für die ästhetischen Dimensionen des Gesehenen zeigt, setzt Fansa auf die Beteiligung von Künstlern bei den Ausstellungsgestaltungen – wovon auch die durchaus sinnliche Installation zum Stickstoffeintrag in die heimischen Geestböden zeugt.

Fansa erkannte die Chance, das Oldenburger Haus zu einem Brückenkopf im Ost/West-Dialog zu machen. Zuvor war es, obwohl angereichert durch völkerkundliche Objekte aus der großherzoglichen Sammlung, im Wesentlichen ein gehobenes Heimatmuseum. Fansa wurde 1995 dessen Direktor und nutzte seine interkulturelle Kompetenz: Zwar fragte man sich bei Sonderschauen wie der über den kosmopolitischen Stauferkaiser Friedrich II. gelegentlich, ob ein vergleichsweise kleines Haus wie das Oldenburger dafür das Prädestinierteste war – doch in seinen besten Ausstellungen fand Fansa Themen, die sowohl dem Ost/West-Austausch dienten als auch dem regionalen Rahmen entsprachen: „Tierisch moralisch“ etwa, die aus dem orientalischen Fabelreichtum ebenso schöpfte wie aus der hauseigenen Tiersammlung. Nebenher gründete der quirlige Direktor noch die Europäische Vereinigung zur Förderung Experimenteller Archäologie.

Der produktive Spagat zwischen Herkunft und Aufenthaltsort ist bei Seetzen ebenso ausgeprägt: Noch kurz vor seinem Tod, auf einem Kamel „das ödeste Gebirge der Welt“ durchquerend, verfasste er eine sehr konkrete ökonomische Abhandlung „Über die Verwandlung der Heyden des ostfriesischen Departements in Saat-Gehölze durch Actiengesellschaften“. Sein anderer Plan – als erster Europäer das äquatoriale Afrika, dessen Inneres die Karten seiner Zeit als große weiße Fläche zeigen, von Ost nach West zu durchqueren – scheiterte an der mysteriösen mutmaßlichen Mordgeschichte. Mitsamt seinen 17 Kamelen und kostbaren Funden verschwand Seetzen in der jemenitischen Wüste.

Seetzens gewaltige Wissbegier kam nicht aus dem Nichts. Seine Heimat Jever muss am Ende des 18. Jahrhunderts ein ziemlich glücklicher Landstrich gewesen sein: Lesezirkel florierten und nicht nur im Städtchen, auch auf den Höfen der wohlhabenden Marschenbauern entwickelte sich eine regelrechte Salonkultur des geistigen Austausches. Grundlage war ein beachtlicher Wohlstand durch die Landwirtschaft, über ihre Sielhäfen konnten die Jeveraner zudem Handel mit England treiben. Die Lateinschule der kleinen Residenzstadt in absoluter Randlage wurde weithin gerühmt, eine „Landesbeschreibung“ bescheinigt diesem bäuerlich-bürgerlichen Milieu Ende des 18. Jahrhunderts eine regelrechte „Lesesucht“. Es war nicht unüblich, dass die Söhne wohlhabender Landwirte studierten, wie zahlreiche Beispiele akademischer Karrieren von Jeveraner Bauernkindern zeigen.

Auch mit seiner Leidenschaft für orientalische Länder war Seetzen kein Einzelfall. Besonders seit Napoleons Ägyptenzügen war Europa vom Orient-Fieber befallen. Von vielen Zeitgenossen unterscheidet Seetzen jedoch der sowohl um Einfühlung als auch um Sachlichkeit bemühte Duktus seiner Berichte. Sie enthalten „keinerlei Tiraden gegen den Islam“, betont die Erfurter Orientalistin Birgit Schäbler.

Religiöse Vereinnahmung

Ob Seetzen tatsächlich „der Humboldt Norddeutschlands“ war, wie Fansa ihn betitelt, mag dahingestellt bleiben – mindestens war er ein bemerkenswerter friesischer Freigeist. Er dachte derart unabhängig, dass sich schon der erste Bearbeiter seiner Tagebücher veranlasst sah, „der religiösen Verwirrung Seetzens Herr zu werden“: Er zensierte die atheistisch inspirierten Passagen oder gab ihnen durch geschickte Auslassungen und Umformulierungen einen christlichen Touch.

Solche religiösen Vereinnahmungen gibt es immer noch: Der Hildesheimer Olms-Verlag bewirbt Seetzens Tagebücher mit der Behauptung, dieser sei aufgrund seiner „Faszination für den Orient“ zum Islam konvertiert. Für Fachleute wie Birgit Schäbler ist das ausgesprochen zweifelhaft: Hier werde Forschungsstrategie mit Spiritualität verwechselt. Schließlich habe Seetzen nur dann ein Chance gehabt, beispielsweise nach Mekka zu gelangen, in dem er sich als Pilger verkleidete. Im Übrigen machte sich Seetzen durchaus selbst Gedanken, ob eine religiöse Maskerade gerechtfertigt sei – auch diese wissenschaftsethische Reflexion lässt ihn modern erscheinen.