: Von Sittichen und Dämonen
SEKTE Misha Anouk lebte Jahrzehnte „in der Wahrheit“. Dann schlief er mit einer Frau. Jetzt hat er ein bitterböses Buch geschrieben über seinen langen Abschied aus der bekanntesten Sekte der Welt
VON NINA APIN
Sie tragen Anzug und Krawatte, klingeln zu den ungelegensten Zeiten an der Haustür und verteilen Hefte, auf denen Lämmer mit Löwen durch eine kitschige Paradieskulisse tollen. Die Zeugen Jehovas sind die bekannteste Sekte der Welt: Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa zufolge kennen sie 96 Prozent – und doch weiß fast niemand Genaues über die 7,9 Millionen Menschen, die ihr Leben „Jehova Gott“ und der Wachtturm-Gesellschaft gewidmet haben. War da nicht was mit Bluttransfusionen und dem Weltuntergang?
Misha Anouks Buch „Goodbye, Jehova!“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, gründlich aufzuklären über das, was die Glaubensgemeinschaft im Inneren zusammenhält – ein autoritäres, theokratisches System, dessen Vorgaben ebenso absurd wie unerbittlich sind. Anouk weiß, wovon er redet: Der 31-Jährige, der als Kind zweier Missionare auf Gibraltar in eine Zeugen-Familie hineingeboren wurde und in Bielefeld aufwuchs, hat das System mit der Muttermilch aufgesogen. Und es als Erwachsener wieder verlassen. Sein Insiderwissen, der große Glaubensschwindel ebenso wie die schmutzigen kleinen Tricks und Geheimnisse, teilt er lustvoll mit den Lesern. Und erzählt nebenbei seine eigene Coming-of-Age-Geschichte: Vom geachteten ältesten Sohn zum Abtrünnigen. Vom Sittich im Käfig zur Wasserratte, die beim Planschen sorgenvoll von den Angehörigen am fernen Ufer betrachtet wird.
Wie unsicher, ja schlüpfrig das Fundament dieser Glaubensgemeinschaft ist, erklärt Anouk anhand des Glaubens an den Weltuntergang. Diese göttliche „Operation Kärcher“, die dereinst alles Böse auf der Welt und den Satan vernichten wird, soll das Paradies bringen. Natürlich nur für wenige Auserwählte. „Wir werden alle sterben (aber wenn du das machst, was wir sagen, vielleicht nicht)“, lautet Anouks flapsige Umschreibung der „Guten Botschaft“, die von den Zeugen Jehovas bis heute verkündet wird. Zeuge Jehova zu sein, das bedeutet, immer auf das nahe Weltenende zu warten. Dieses sagte erstmals der amerikanische Militär und Bibelforscher William Miller für 1843 voraus. Dann für 1844. Später übernahmen es andere, wie Charles Taze Russell, Begründer der Internationalen Bibelforscher-Vereinigung und schließlich die „Leitende Körperschaft“ der Wachtturm-Gesellschaft, Harmagedon zu terminieren. Auf 1914, 1918, 1925 oder 1975 . „Seit 1975, dem letzten großen terminlichen Missgriff, hat George Lucas die Prequels zu ‚Star Wars‘ produziert, ‚Chinese Democracy‘ und ‚Duke Nukem Forever‘ sind erschienen, ist Ozzy Osbourne Vater und Großvater geworden“, vermerkt Anouk boshaft. „Persönlich glaube ich, dass Jehova unbedingt noch den finalen Band von George RR Martins ‚Lied von Eis und Feuer‘ abwarten möchte.“ Mittlerweile verzichtet das oberste Gremium der Zeugen Jehovas auf genaue Terminvorhersagen und hält die Gläubigen mit Formulierungen wie „unmittelbar bevorstehend“ bei der Stange.
Auch Misha Anouk wurde zum Warten auf Harmagedon erzogen. Als Kind fuhr er jeden Freitag mit der Familie zur Zusammenkunft seiner Gemeinde in den Königreichssaal. Samstags musste er mit Clip-on-Krawatte und Anzug „Predigtdienst“ leisten, also an Türen klingeln und mit dem Wachtturm in der Hand in Fußgängerzonen stehen. Am Sonntag traf sich die Gemeinde zum gemeinsamen Studium der Wachtturm-Zeitschrift. Die als „geistige Speise“ von der Leitenden Körperschaft mit Sitz in New York verbreiteten Wahrheiten wurden zuvor im Familienkreis durchgearbeitet. Nachfragen waren nicht erwünscht: „Ours is not to reason why“, beschied dann der Vater. In Anlehnung an Alfred Lord Tennysons Kriegsgedicht „The Charge of the Light Brigade“: „Theirs not to reason why, theirs but to do and die.“
Auch sonst bestimmte der Glaube den Alltag: Weil Zeugen Jehovas kein Blut annehmen oder austauschen dürfen, fiel für Misha das Blutsbrüderritual auf dem Schulhof flach. In einem Brustbeutel trug der Schüler einen Blutausweis herum, der ihn als Zeugen Jehova auswies. Was das praktisch bedeutet, erklärt der Autor anhand einer Mandeloperation, der er sich als 13-Jähriger unterziehen musste: „In unserer Stadt war kein Arzt bereit, meinen Eltern das Versprechen zu geben, bei Komplikationen auf Blut zu verzichten. Deshalb wurde ich in der Nachbarstadt operiert. Ich wusste, dass meine Eltern mich lieben. Ich wusste auch, dass sie mich sterben lassen würden, wenn es hart auf hart käme.“
Den persönlichen Passagen merkt man an, wie sehr der Autor um Verständnis für seine Familie ringt. Ausführlich beschreibt er die Fürsorglichkeit und Zugewandtheit seiner Eltern: Er und sein Bruder bekamen an Weihnachten Geschenke, obwohl die Zeugen Jehovas dieses „weltliche“ Fest nicht feiern. Mit den Eltern unternahmen die Brüder Ausflüge, schauten zusammen Filme – allerdings nur solche, die gemäß den Richtlinien der Leitenden Körperschaft als „christlich“ galten. Und diese Richtlinien wechselten dauernd. Der Alltag geriet zur fortwährenden Gratwanderung: Star Wars, Röhrenjeans, Klassenfahrten – gerade noch vertretbar oder schon „dämonisch“?
Dass Misha Anouk in der Poetry-Slam-Szene sozialisiert wurde, merkt man den überdrehten Alltagsbeschreibungen an. Die wechseln sich im Buch – oft ziemlich abrupt – mit nüchternen Erklärpassagen ab, in denen der Autor mit Unterstützung von Totalitarismusforschern, Psychologinnen und Sektenexperten das theokratische System der Zeugen Jehovas auseinander nimmt. Diese Zweigleisigkeit funktioniert erstaunlich gut: Je tiefer man in die Alltagswelt des immer stärker zweifelnden Anouk eintaucht, desto weiter dringt man vor ins Geflecht von Jehovas Zeugen. Um am Ende zusammen mit dem Autor die Befreiung des Sittichs aus seinem Käfig und die Qual der plötzlichen Freiheit mitzuerleben: Zorn, Depression, Akzeptanz.
Seine Familie hat Misha Anouk seit elf Jahren nicht mehr gesehen. Aber seine Eltern beten dennoch noch immer für seine Rückkehr.
■ Misha Anouk: „Goodbye, Jehova! Wie ich die bekannteste Sekte der Welt verließ“. Rowohlt Verlag, Reinbek, 2014. 544 S., 9,99 Euro.