: Die Stadt als Wimmelbild
WAHLPROGRAMME (4) Die Grünen zeichnen die Stadt als ökosoziale Idylle. Auf den begrünten Dachterrassen der von Baugruppen errichteten Neubauten stehen vergnügte Menschen und trinken Biowein
■ „Straßenrand zu Buschland!“ von David Wagner (26. 8.): Die FDP träumt vom Wollen. Sie will Cluster, Gentrifizierung und Studiengebühren und mehr Büsche.
■ „Die DKP kämpft Tag und Nacht“ von Jörg Sundermeier (19. 8.): Sie haben die richtigen Argumente, aber Lokalpolitik machen wollen sie nicht.
■ „Die sind allen anderen voraus“ von Detlef Kuhlbrodt (12. 8.) über die CDU: Das 100-Punkte-Programm liest man wie einen Roman und stellt fest, dass die Zeit der Dämonisierungen vorbei ist.
■ „Die Arbeit kommt zuerst“ von Cord Riechelmann (5. 8.) zum SPD-Programm: Die SPD träumt weiter den Traum von der Vollbeschäftigung.
VON CHRISTIANE RÖSINGER
Ganze 140 Seiten lang ist das Programm der Grünen. Mühsam quält man sich durch den Text, in dem die Stadt zu großen Teilen als Idylle gezeichnet wird. Die literarische Form der Idylle hatte ihre Blütezeit eigentlich im 18. Jahrhundert, überlebte aber bis ins Biedermeier. Die Idylle stellt menschliche Grundhaltungen wie Liebe, Zufriedenheit, aber auch Freiheitsstreben in leicht überschaubaren, meist ländlichen Szenen dar. Sie ist das Stimmungsbild einer harmonischen, beschaulichen Zufriedenheit. Die von den Grünen gezeichnete Berlin-Idylle erinnert auch an die bei Kleinkindern sehr beliebten großformatigen Wimmelbilderbücher, in denen Dutzende kleiner Alltagsszenen dargestellt sind.
Freiburg in groß
Berlin ist im grünen Wahlprogramm ein großes Freiburg, ein Wimmelbild der ökosozialen Stadt der Zukunft. Beschauliche Straßen mit schönen Häusern. Auf den begrünten Dachterrassen der von Baugruppen errichteten Neubauten stehen vergnügte Menschen und trinken Biowein, aber auch die leicht verwahrlosten Ureinwohner leben noch in ihren bezahlbaren Wohnungen und schauen mit der Bierflasche in der Hand aus dem Fenster auf das bunte Treiben, während sich in der Ökosupermarktkette und im Fahrradladen die Anwohner zu einem Schwätzchen treffen. Derweil warten die Kinder mit den Schülertickets an der Haltestelle auf die Tram, die sie in die Integrationsschule bringt, Elektrotaxis kutschieren die Kinder von Besserverdienenden in die Privatschulen. Vor der Green-Design-Boutique hat sich, betreut von einem Ökosiegel-Tourismus-Guide, eine kleine Horde neugieriger Touristen eingefunden, sie werden gleich auf einem schmalen Uferweg an der Spree entlang geführt, wo in wärmegedämmten Lofts Kreative beieinanderhocken und brainstormen, wie man den Standort Berlin für die Computerspielindustrie fördern kann. In der Nebenstraße steht das freundliche, klimaneutrale Jobcenter, in dem Langzeitarbeitslose auf Augenhöhe an Jobs, Umschulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen herangeführt werden, nebenan im Rathaus wird gerade eine Bürgersprechstunde abgehalten.
Engagierte Grünen-Politiker, die Partizipation und Transparenz in Person, hören sich geduldig und mit offenen Ohren die Sorgen der Bürger an. Im Wohngeldamt im ersten Stock wird von gütigen Beamten den Wärmedämmungsopfern ganz unbürokratisch das Klima-Wohngeld ausgezahlt, in der Fabriketage nebenan sitzen in den Planungsbüros Forscherinnen zusammen und tüfteln angeregt an neuen energieeffizienten IT-Technologien, während in den mit Sonnenblumen bemalten Werkhallen die Arbeiter Solartechnik zusammenschrauben. Hier findet gerade die grüne industrielle Revolution statt, die dann hilft, den Schuldenberg Berlins abzubauen und die grüne Idylle zu finanzieren. Berlin soll mithilfe der Grünen und ihrer „Zehn für Berlin“ nämlich solidarisch, prosperierend, lebenswert, lernfähig, familiengerecht, demokratisch, geschlechtergerecht, kreativ und bewegt, Welt- und Klimahauptstadt werden.
Spätestens ab Seite 60 wird das Lesen zur Qual. Die Sprache wird uneinheitlich und schwammig, immer mehr mischt sich ein dozierender Tonfall ins Programm. Als spräche ein leicht genervter Erwachsener mit überdeutlicher Stimme zu einem minder bemittelten Kind: Alle sollen sich miteinander hinsetzen und gemeinsam nach Lösungen suchen! Anbiederische Berlinismen – „Und was hat der Senat gemacht: nüscht!“ – wechseln sich mit aufgeblasenen Politangliszismen ab: Green New Deal für Berlin, Open Government, Open Data, Public Health, Diversity Training. Natürlich geht es immer wieder um nachhaltige Arbeitsplätze und ökonomischen Strukturwechsel. Innovationsschub, Green Meetings für das Kongressgeschäft.
Showman Wowi
Um den Showman Wowi zu entzaubern, wird bis zur Seite 60 viermal das verbrauchte Bonmot vom armen, aber sexy Berlin angeführt. Die ständige Wiederholung des Slogans „Eine Stadt für alle“ und „In den Bezirken, im Kiez!“ ermüdet. Wenn dann weit hinten im Programm die Kultur drankommt, haben geneigte Leser längst keine Kraft mehr. Aber die Überschriften „Vorhang auf! “, „Erste Geige“, „Berlin tanzt“ und „Willkommen im Club“ lassen nichts Gutes ahnen.