: Das Volk begehrt ganz gern mal
In Norddeutschland werden besonders viele Volksbegehren und Volksentscheide durchgeführt. Jahresbericht 2006 von „Mehr Demokratie“ lobt und kritisiert zugleich die Zustände vor allen in den Stadtstaaten Bremen und Hamburg
Das Fazit von Frank Rehmet ist eindeutig: „Der Bedarf an direkter Mitbestimmung zwischen den Wahlen ist groß“, sagte der Autor des Volksbegehrensberichts 2006 gestern in Hamburg. Vor allem in Norddeutschland, denn hier wurden im vorigen Jahr acht neue Volksinitiativen oder -begehren gestartet – im restlichen Deutschland waren es weitere elf. Zeitgleich wurde der Bericht in Bremen und Berlin vorgestellt.
Vier Initiativen laufen derzeit in Schleswig-Holstein und drei in Mecklenburg-Vorpommern. Während die BürgerInnen in Niedersachsen nicht mitreden wollten, taten sie dies in Bremen in einem Fall sehr erfolgreich.
Denn dort hat die Bürgerschaft im vergangenen Jahr eine Reform des Wahlrechts umgesetzt, die die damals noch regierende große Koalition lange abgelehnt hatte. Zuvor hatten die Initiatoren eines Volksbegehrens über 70.000 Unterschriften gesammelt. 48.175 UnterstützerInnen hätten ausgereicht, um ein Referendum zu erzwingen. Nun sollen bei der Bürgerschaftswahl im Jahr 2011 alle BremerInnen mehrere Stimmen auf einzelne KandidatInnen verteilen (kumulieren) oder KandidatInnen verschiedener Parteien ihre Stimme geben (panaschieren) dürfen.
Es war das erste Mal in 60 Jahren, dass sich ein Volksentscheid in Bremen durchsetzen konnte. Der Stadtstaat sei aufgrund seiner Größe für direkte Demokratie „geradezu prädestiniert“, sagte Tim Weber, Landessprecher von „Mehr Demokratie“ gestern. Dennoch habe Bremen – neben Niedersachsen – „großen Nachholbedarf“. In kaum einem anderen Bundesland seien gesetzlichen Regelungen so „restriktiv“.
SPD und Grüne haben sich in ihrem Koalitionsvertrag nun darauf verständigt, die Beteiligungsquoren zu reduzieren. Zukünftig sollen die Unterschriften von fünf statt zehn Prozent aller Wahlberechtigten genügen. Für das Sammeln dieser Stimmen bleiben aber nur noch zwei Monate, einer weniger als bisher. Für einfache gesetzliche Änderungen reicht künftig die Zustimmung von 20 (statt bisher 25 Prozent) der Wahlberechtigten.
Neu hinzugekommen sind zu Beginn dieses Jahres zwei neue Volksinitiativen in Hamburg. Denn der Hansestadt fällt eine skurrile Sonderrolle zu: In keinem anderen Bundesland gibt es mehr Volksbegehren – und in keinem anderen Bundesland werden Volksentscheide von der Regierung ausgehebelt.
So wurde an der Elbe der Landesbetrieb Krankenhäuser (LBK) vom Senat an den Klinikkonzern Asklepios verkauft, obwohl mehr als drei Viertel der HamburgerInnen dagegen votiert hatten. Und das neue Wahlrecht wurde, anders als in Bremen, von der CDU-Mehrheit im Parlament in ihrem Sinne geändert.
„Diese Missachtung des Volkswillens ist einmalig in Deutschland“, sagt Manfred Brandt vom Hamburger Verband von „Mehr Demokratie“. Überall sonst würden Volksentscheide „selbstverständlich von den Regierenden respektiert“, selbst dort, wo die Verbindlichkeit des Referendums „nicht ausdrücklich in der Verfassung festgeschrieben“ sei – nur in Hamburg würden Volksentscheide „nach Gutsherrenart akzeptiert oder nicht“.
Deshalb wurden im Februar 2007 in Hamburg zwei neue Volksinitiativen gestartet: „Rettet den Volksentscheid“ wurde im Juni von der Bürgerschaft übernommen, über „Stärkt den Volksentscheid“ muss das Volk im Oktober entscheiden.
Sven-Michael Veit / Jan Zier
inland SEITE 5