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Archiv-Artikel

Über Peanuts, mich und andere Sachen

NEWCOMER „Mein Name ist Kobe Bryant, wohnen Sie in der Stadt?“ Der Autor Sebastian Polmans gewann den Publikumspreis beim Open Mike in Berlin. Die taz dokumentiert seine Erzählung

PUBLIKUMSPREIS

■ Sebastian Polmans wurde 1982 in Mönchengladbach geboren und lebt in Hildesheim. Er betrieb geistes- und musikwissenschaftliche Studien an Universitäten in Siegen, Hildesheim und Rom. Er erhielt verschiedene Stipendien, veröffentlichte zuletzt in „Manuskripte“ und „Am Erker“. Sein erster Roman „Junge“ wird im September im Suhrkamp Verlag erscheinen.

■ Für diesen Text erhielt Sebastian Polmans beim letzten Open Mike in Berlin den Publikumspreis. Der Preis wird durch eine in Zusammenarbeit mit der taz benannte Publikumsjury vergeben. Im Preis enthalten ist ein Abdruck in dieser Zeitung – hier ist er!

■ Den Open Mike in Berlin gibt es seit 19 Jahren. Er hat sich längst zu einem der wichtigsten Wettbewerbe für literarische Neuentdeckungen entwickelt. Julia Franck, Tilman Rammstedt, Zsuzsa Bánk, Karen Duve und Jochen Schmidt gehörten unter anderem zu den bisherigen Preisträgern.

VON SEBASTIAN POLMANS

„Hail Mary, full of grace …“

Aus dem „Ave Maria“ in englischer Übertragung

Shit, denk ich. Das ist nicht gut. Noch fünfzehn Minuten, bis die 3 kommt. Das ist nicht gut, weil ich mir, wenn ich warten muss, immer vorkomme wie der letzte Mensch auf der Welt. Und diese Welt mit mir als allerletztem Menschen kommt mir dann irgendwie winzig vor, wie eine Erbse. So ist das bei mir. Und dann dieser endlose Regen und diese Hitze. Und bis auf das grell scheinende Licht in der Haltestelle ist alles so megadunkel, dabei ist es viertel nach drei, p. m. Und sowieso denk ich mir gerade, das sei nie anders gewesen, als wär das hier mein fucking Zuhause. Home is where the hatred is … Nur, dass ich nicht allein bin.

Da ist nämlich diese Frau neben mir. Ihr Gesicht fast schwarz, viel schwärzer als meins, und sie ist klein und ziemlich dick. Sie trägt so ein Nonnenoutfit, die Farbe ist eins zu eins Vanille, auf ihrer Nase eine Sonnenbrille. Und an einer langen Kette um ihren Hals hängt ein geschnitzter, ziemlich großer Jesus am Kreuz und das Kreuz da auf ihrem Bauch, wie mit Prittstift festgeklebt, und hinter der Holzbirne von diesem Jesus ein bierdeckelgroßer, neongelber Heiligenschein, der im Dunkeln leuchtet. Bling, bling … Damit wahrscheinlich keiner mehr Angst hat im Dunkeln.

Auf jeden Fall knackt die Nonne Erdnüsse, die sie wie eine Zauberin unter ihrer Kutte hervorholt. Die blank geschälten Kapseln schnipst sie sich mit ihren kurzen, schwarzen Fingern in den Mund. Manche Schnipsel der braunen Hülsen segeln auf ihre Kutte, nach fünf Minuten ist oberhalb ihrer eckigen Mordsbrust alles wie auf einem Tablett serviert.

Ich kratz mich am Nacken und stelle mir vor, wie ich mich mit der Nonne unterhalte: „Entschuldigen Sie, mein Name ist Kobe Bryant, wohnen Sie in der Stadt? Wo kommen Sie her? Könnten Sie mich vielleicht segnen?“

Sie hält ihren Kopf gesenkt und rückt jetzt diesen Jesus am Kreuz vor ihrem Bauch zurecht. Irgendwie leuchtet das Bierdeckelheiligenscheindings danach noch heller, was ziemlich gut aussieht. Und ich beweg dann ein bisschen meine Lippen, wie ein Bauchredner: „Mein Name ist Kobe Bryant, könnten Sie mich vielleicht segnen?“ Das meine ich ernst, das mit dem Segnen. Ich glaub daran, dass so was hilft. Okay, okay, mein Name ist erfunden. What’s my name …

Die Nonne und ich

Die Nonne und ich, wir sind die Einzigen in dem Häuschen der Haltestelle. Logisch kriegen wir hier drinnen auch Tropfen ab, aber draußen fällt der Regen so endlos. Wie eine verdammte Mauer, die bis in den Himmel geht, kommt mir das vor, wenn ich in diese flackernden Schlieren starre. Ich kann nicht mal die andere Straßenseite erkennen, und die schwarze Nonne und ich stehen da, wie in einem winzigen Zimmer, ohne Tür. Just the two of us … Und dann noch dieses straighte Rauschen. Und da schießt mir wieder so ein flirrender Blitz durchs Mark und ich hab kein Plan mehr, wo ich bin. Wie gesagt, so was passiert mir halt, schon bei so Kleinigkeiten. So ist das. Me, myself and I …

Und ich dreh mich also um. Weil mir das Umdrehen immer hilft, wenn es mir so geht. Der Moment, wo man den Kopf bewegt, tut nämlich gut. Ich hab meinen Kopf deshalb auch früher schon immer so geschüttelt, permanent eigentlich, und die Augen hab ich dabei weit aufgerissen, um alles in Bewegung zu sehen. Move something … Jetzt leg ich das Kinn aber auf meiner Schulter ab und blick auf diese beiden gelben Hartschalen. Die Tags „Johnny is a homo“ und „fuckyoutwice“ und „PENG“ kann ich lesen, drumherum ist ein fettes Herz in die Schale geritzt, und etliche weiße und pinke Kaugummis kleben auf den Sitzflächen. Pfefferminz und Himbeer, perfekte Kaugummimische für den Sommer, denk ich mir. Ich stell mir auch den Geschmack vor und dabei fängt mein Mund an zu kribbeln und dann kribbelt es plötzlich überall, so ganz unangenehm.

Ich dreh mich also wieder um, nach vorn, die Augen lass ich auf. Der Regen bleibt heftig. Und jetzt bekomm ich auch wieder so ein Schiss, dass der Regen meine Haut weiß wäscht.

Die Nonne und ich, wir setzen uns jedenfalls beide nicht. Wir stehen so ziemlich auf einer Höhe in der Mitte vom Häuschen, und wenn ich meinen Arm ausstrecke, würde meine Hand ungefähr auf ihrer Schulter liegen. Natürlich mach ich das nicht. Can’t touch this …

Einmal dreht sie sich auch um. Und diese ganzen Erdnussschnipsel schweben dabei zu Boden, und ihre Kreuzkette mit dem Jesus schwingt hin und her und macht glöckchenartige Geräusche, als wär jetzt Weihnachten und nicht so ein brüllend heißer Sommer, und ich denk, dass ihre nonnige Vanillehaube auch so richtig langes und blondes Engelshaar sein könnte, und ihre Flügel, vielleicht hat sie die ja versteckt unter ihrer Kutte, wegen diesem Höllenregen, in dem jeder Engel wahrscheinlich abstürzen würde.

Ich entdeck auch ein, zwei Sommersprossen auf ihrer schwarzen Wange. Weiter weg höre ich ein paar Mal eine Hupe, die wie Schweinegrunzen klingt. Ich denk mir, Sommersprossen, Schweine, wünsch dir was. Klar, dass ich mir den Regen wegwünsch, aber nix passiert.

Als sich die Nonne wieder nach vorn dreht, hält sie sich ein winziges Handy ans Ohr, ein paar Mal höre ich ihr „Mhmhm“. Sie nickt währenddessen ziemlich besinnlich. Dann lässt sie das Teil ohne irgendeine Verabschiedung unter ihrer Kutte verschwinden. Kein Plan, wer das war, vielleicht Gott.

„Dein Ticket“, sagt eine ultrafiese Stimme, als ich mich setzen will

Dieses Durcheinander

Dieses Durcheinander von Nässe und Hitze jedenfalls ist eklig und ich kratz mich, dabei rutscht mir der Träger von meinem Lakers-Trikot von der Schulter. Instinktiv falte ich die Hände als würde ich beten. Amen, brother … Sicher komme ich mir zuerst vor, als helfe das tatsächlich. Nur der Träger hängt mir immer noch von der Schulter und ich schau sofort nach, ob die Haut da, wo ich mich gekratzt hab, jetzt weiß ist, und ich check auch meine Schulter. Aber alles okay. Trotzdem fangen meine Beine jetzt an zu zittern, so richtig heftig. Ich schau an mir runter, kurz bin ich stolz, als ich meine roten Airmax leuchten sehe, aber da ist nicht mal eine Minibewegung in meinen Beinen. So eine Scheiße, sag ich mir, aber dann denke ich: „Halt, Boogiemen! Talk to the nun!“ Wahrscheinlich, weil ich glaube, dass sie mir mit diesem Weißwaschschiss irgendwie helfen kann.

Und ich guck mir meine Hand an, außen, innen, außen, innen, schwarz, weiß, Kopf, Zahl, denk ich. Die Nonne guckt weg. Also hör ich auf damit. Ich guck auf meine Hand, innen. Zahl. Die weiße Seite. Game over, denk ich, normal nehm ich ja Kopf. „Talk to the nun!“

Ich schrapp so mit den Füßen über den Boden, vorsichtig, wie mit einer Harke, wahrscheinlich um irgendein fucking Wort vom Boden zu kratzen. Ohne Scheiß, ich glaub wirklich, dass die Sätze auf der Straße liegen. Klar, hab ich auch schon mal Bücher gelesen. Aber ich glaub, die freshesten Sätze und Worte, die einem wirklich was bringen, die einem weiterhelfen, die liegen auf der Straße. Ich überlege deshalb auch, meine Airmax auszuziehen, weil ich glaube, bloßfüßig lassen sich die Worte besser fühlen. Word up … Und während ich so rumschrapp, erst da fällt mir auf, dass ich auf einem kreisrunden Gullideckel stehe. Und aus diesen kleinen Löchern dampft es. Vielleicht eine Rakete oder so was in der Art und gleich startet die mit mir durch, denk ich mir. Dann wär ich im Himmel. Touch the sky …

Diese Nonne, ich stelle mir vor, sie wär meine Mutter. Mit meiner Mutter bin ich ein paar Mal in die Kirche gegangen früher, und vor dem Schlafen hat sie mit mir gebetet und gesungen, immer das Gleiche, jede Nacht. „Müde bin ich, geh zur Ruh, mache beide Äuglein zu, Vater, lass die Augen dein über meinem Bettchen sein …“ Aber das hat geholfen.

„Ich bin bald weg“, hat mir meine Mutter dann irgendwann gesagt, fast täglich. Eine Frau aus Polen war da auch da, die war sehr nett und hatte so ein ganz spitzes Kinn und trug immer so eine Yankee-Basecap, aber die konnte unsere Sprache nicht. Aber weil ich auch immer so Probleme hatte mit dem Sprechen, war das total okay. Jedenfalls, irgendwann im Winter war meine Mutter weg, und auch die Polenlady. Und ich bin aus meinem Zimmer und dann saß da meine Tante im Schaukelstuhl, mit einer Zigarette und ihren blonden Plastikhaaren und guckt hoch an die Decke und sagt so mit ihrer Piepsstimme: „Die ist im Himmel.“ Ich hab nur genickt. Ich erinner mich gut daran, und an diesen perversen Zigarettengestank. Meine Tante hat dann jedenfalls auch nicht mehr mit mir gebetet, die hat nur gesungen: „Schlaf, Junge, schlaf …“ Und auch nicht immer. Das klang so scheiße und hat mich so richtig traurig gemacht, und meine Tante hat sowieso nach Zigaretten gestunken und nach Zwiebelringen und immer nur mit irgendwelchen knochigen Mackern in der Küche gesoffen und rumgemacht. Nonnen saufen wahrscheinlich nicht.

Die Nonne neben mir sowieso nicht. Die kaut Peanuts, richtig profimäßig sieht das aus, und klar muss ich da an den Coach der New York Knicks denken, Mike D’Antoni. Aber der kaut immer total schnell und flippt meistens irgendwann auch aus. So wie die Nonne das macht, hat das was Friedliches, was total Beruhigendes. Und als ich meinen Kopf runterbeuge, um sie aus dem Augenwinkel noch besser zu beobachten, seh ich, wie sich ihre ganze Kutte zu ihrem Kaurhythmus bewegt, so ganz leicht, als würde sie vielleicht auch tanzen, so ganz smooth. Und jetzt weiß ich auch, was ich sie fragen will, nämlich ob sie mir nicht auch eine Erdnuss unter ihrer Kutte hervorzaubern kann. Wir würden dann zusammen hier rumstehen oder tanzen und Nüsse knacken. Das wäre richtig gut.

Als ich dann irgendwas fühle unter meinen Schuhen, höre ich so ein Quietschen, und bam, plötzlich steht die 3 da. Als sei der Bus vom Himmel gefallen steht der jetzt einfach so da. Hokus Pokus … Klar, die Viertelstunde ist um, aber keine Ahnung, was das alles soll. Jedenfalls muss ich durch diesen scheiß Regen und mir geht es nicht gut und ich weiß auch gar nicht, wo ich hin soll, und meine Beine fühlen sich immer noch so an, als würden sie zittern.

Sie rührt sich nicht

Die Nonne rührt sich nicht mehr, die steht da wie versteinert. Und ich überlege auch kurz, ob ich bleiben soll, bei ihr. Weil ich gar nicht weiß, wo ich hin soll. Ich geh dann trotzdem los. Und während ich also hinten in die 3 einsteige, triefnass von den paar Schritten durch diesen fucking Regen, höre ich die Nonne kurz pfeifen. Sie fragt mit einer ziemlich souligen Stimme, wo ich herkomme. „Mein Vater kommt irgendwo aus Afrika“, rufe ich und bin mir aber auch da gar nicht mehr sicher. Ich hab den ja nie gesehen. Und ich bleibe mit einem Fuß noch draußen und guck noch mal zu ihr hin.

Und nachdem sie ein paar Erdnüsse aus der Hand geworfen hat, seh ich, wie sie einen Regenschirm unter ihrem Dress hervorkramt. Scheiße Mann, denk ich, gelbe und lila Streifen, die Lakers. Dann verschwindet sie unter dem Schirm.

Durch die Lautsprecher im Bus hör ich die Stimme des Fahrers: „Rein oder raus?“ Ich fühle Wasser in dem Airmax, mit dem ich noch draußen steh. „Rein oder raus?“ Ich steig ein.

Wenn ich meinen Arm ausstrecke, würde meine Hand auf ihrer Schulter liegen

Dann sofort dieses Warnpiepen, dreimal, bevor die Türen zuklappen. Und ich sehe die Nonne, wie sie wie so ein Monstermagicmushroom auf den Gehweg und hinaus in diesen Höllenguss tippelt und verschwindet. Irgendwie bin ich da beruhigt, zumindest für den Moment. Ich schmunzel auch kurz. Das habe ich lange nicht mehr gemacht. „Mein Name ist Kobe“, denk ich, „Kobe Bryant, und ich bin nicht allein.“ Und weil der Bus mit einem Ruck anfährt, greif ich schnell nach so einer Halteschlaufe, die wie Würgeschlingen an den Stangen unter der Decke schaukeln.

„Dein Ticket“, sagt eine ultrafiese Stimme, als ich mich setzen will. Der Typ hat eine Hakennase und sein Gesicht hat rosarote Flecken, aber ist im Grunde genommen schneeweiß, wie ein Blatt Papier, das ich am liebsten zerreißen würde. Auf der Stirn hat er knittrige Falten und er stiert mir mit seinen schlitzigen Augen auf die Hände. Außen, schwarz, denk ich, Kopf, und ball Fäuste und merk zum ersten Mal, dass ich nicht schissig oder traurig bin, sondern ziemlich wütend auf all die Egofucker da draußen, die so sind wie dieser Ticketpunk, oder wie meine Tante, und die sich alle für irgendeinen verdammten Planeten halten und sich eigentlich eine verdammte Scheibe von meiner Mutter oder von der Nonne oder der Polin mit der Yankee-Cap abschneiden sollten. Und irgendwie weiß ich aber auch nicht, was genau man da tun kann. You gotta fight …

„Dein Ticket“, nörgelt der Weißkopf mit mehr Lautstärke. Und ich guck auf meine Arme, die voll nass sind und schmierig, und werde saunervös. Aber irgendwie freu ich mich, dass alles schwarz bleibt, als ich mir mit dem Finger über die Haut streich.

Der Weiße hustet. Ich guck ihn aber nicht an, sondern noch mal raus. Es hat aufgehört zu regnen. Es ist wieder heller. Tropfen flitzen in Minibahnen außen am Busfenster hinunter. Ich wette gefühlsmäßig auf den Turbo einzelner Striche. Ein Mädchen in pinkem Overall fährt mit einem Tretroller durch eine Pfütze auf dem Gehweg. Auf einem Court tippen ein paar dürre Kids ihren Basketball.

Die meisten tragen Shirts mit der Nummer 34, O’Neal. Auch die Nonne sehe ich wieder, wie sie auf einer Bank sitzt und ihren Schirm ausschüttelt. Dann zieht sie ihre Sonnenbrille ab und blickt kurz zu mir auf. Im Vorbeifahren seh ich einen Walkman in ihrem Schoß liegen, und wie sie mir ihren Zeige- und Mittelfinger entgegenhält. Und ihre ultrablau leuchtenden Augen sehe ich, genau wie die meiner Mutter, nur dass die weiß war.

Dann fühle ich eine Hand in meinem Nacken. Shit. Bye, bye blackbird … Und that’s it.