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Archiv-Artikel

Der kleine Matrose

Eine Weihnachtserzählung von Katrin Seddig Illustrationen: Imke Staats

Katrin Seddig

■ 45, ist Schriftstellerin und lebt in Hamburg. Ihr jüngstes Buch „Eheroman“ erschien 2012 bei Rowohlt, ihre Kolumne „Fremd und befremdlich“ gibt es mittwochs in der taz.nord.

Sie sieht ihn sich aus der nebligen Gräue schälen. Er ist klein und schmal, er trägt eine Tasche in der Hand, eine bunte Pudelmütze auf dem Kopf, wie ein Junge, denkt sie, mit der Mütze, wie ein Junge, der von einem Spiel nach Hause kommt. Er geht langsam und vorsichtig, als wüsste er nicht, ob es richtig ist, so zu gehen, und wohin zu streben, als wüsste er nicht, ob es richtig ist, überhaupt zu gehen, als würde er lieber umkehren und zurückgehen, von wo er kam. Aber das weiß sie natürlich nicht. Sie hat sofort ein zärtliches Gefühl für ihn, als wäre er ihr Junge. Als wäre er ihr fremder Bruder.

Er geht zwischen den Straßenlaternen, die hintereinander aufgereiht, sich zum Fluchtpunkt hin verjüngen, leuchtende Nebelkränze um sich herum. Im Hintergrund das Lichtpunktmuster der Schiffe, sich wiederholend im schwarzes Wasser und über allem, verschwommen weiß, der kalte Mond.

„Johny?“, spricht sie ihn an.

Er bleibt stehen.

„Ich bin Bettina, Markus’ Schwester“, sagt sie, „er wär’ gekommen, aber…“

„Markus ist nicht da?“, unterbricht er sie.

„Er war drüben, bei den Simones, da hat er was mit denen gekifft, du weißt ja bestimmt, wie es ist… wie er ist.“

„Aber er hätte doch mitkommen können.“

„Er hätte“, sagt sie und schweigt. Sie hat bis hierher nicht gewusst, wie sie ihm erklären soll, dass Markus noch bei den Simones bleiben wollte. Man kann es nicht erklären, denkt sie, man kann es nur verstehen, wenn man Markus kennt.

„Es ist doch egal, oder?“, sagt sie und weiß, dass es gar nicht egal ist. Irgendwie ist es nicht egal, und sie kommt sich schlecht vor, obwohl sie nicht schuld ist.

„Ja“, sagt er.

Dann schweigen sie eine Weile und fahren durch den nebligen Abend, im Radio Weihnachtsmusik.

Sie ringt sich dazu durch, zu sagen: „Schön, dass wir dich jetzt mal kennenlernen.“

„Hmh“, sagt er.

Wie ein Junge, denkt sie wieder. Und trägt immer noch seine Mütze auf dem Kopf. Dann reden sie nichts mehr, die Hitze im Wagen macht sie matt, im Radio erklingen die Glocken.

Markus kommt aus dem Haus, er trägt den Müll zur Tonne am Gartentor, lässt den Deckel fallen und kommt dann, die Hände in den Hosentaschen, langsam zu ihnen herübergeschlendert. Er grinst bekifft, er sieht unentschlossen aus. Unentschlossen, denkt sie, ist das richtige Wort.

„Na“, sagt er grinsend und umarmt Johny ganz kurz, der ihn auch umarmt. Sie umarmen sich und ihre Atemwolken dampfen in verschiedene Richtungen.

Johny hat die Tasche auf dem Boden abgestellt. Er kratzt sich unter der Wollmütze und schnieft, vielleicht von der Kälte, vielleicht von was anderem. Sie weiß es nicht.

Drinnen steht die siebenjährige Juli auf dem Esstisch und fischt einen kleinen Helikopter aus dem Lampenschirm.

„Pass auf die Glühbirne auf!“, sagt Daniel, Julis Vater. Er hält ein schweres Glas mit einer braunen Flüssigkeit in der Hand, Whisky, denkt sie, und sein Gesicht ist ganz rot.

„An so einer Glühbirne kannst du dich heftig verbrennen“, sagt Daniel.

„Weiß ich doch“, sagt Juli und springt vom Tisch, den Helikopter in der Hand. „Ich bin doch nich’ blöd.“

In der Wohnung riecht es nach Fleisch. Der Fernseher läuft und in einem Sessel davor sitzt ihre Mutter, die Beine auf einem Hocker hochgelegt, und schläft.

„Wie kann sie hier schlafen?“, fragt Bettina.

Wiebke, ihre Schwester, kommt aus der fleischdünstenden Küche, ein Tablett mit Sekt in der Hand, eine blaublumige Schürze vor das silbrige Strickkleid gebunden.

„Sekt!“, ruft sie und alle stellen sich um sie herum auf, Daniel, ihr Vater, Juli, Markus, der den kleinen Matrosen in die Runde schubst, und auch die Mutter wird aus dem Schlaf gerissen.

„Was?“, ruft sie. „Was macht ihr denn?“

„Auf Weihnachten“, sagt Wiebke, „Willkommen…“ Sie sieht hilflos den kleinen Matrosen an.

„Ich hab da so einen kleinen Matrosen kennengelernt“, hatte Markus Anfang Juni erzählt, dann irgendwann später: „Der kleine Matrose kommt auf Urlaub.“ Und vor ein paar Wochen: „Weihnachten bring’ ich den kleinen Matrosen mit.“

„John“, sagt der kleine Matrose und wird rot.

„Willkommen, John“, sagt Wiebke, „in unserer Familie.“

Dann stoßen sie an.

Nach dem Essen legt sich Bettina im Nähzimmer auf eine Liege und starrt an die Decke. Die Decke ist getäfelt. Die Täfelung ist aus Plastik, das Holz imitiert. Neben der Liege steht ein Tisch mit einer Nähmaschine. Mit der Nähmaschine nähte die Mutter früher die Risse in der Kleidung zusammen. Sonst nähte sie nichts. Sie hatte nie etwas, kein einziges Kleidungsstück, neu genäht. An der Wand hängt ein Bild von einem kleinen Hasen. Das ist der Geschmack der Mutter, denkt sie. Sie mag niedliche Sachen. Sie stellt überall kleine Tiere auf. Häschen, Eichhörnchen, Igelchen. Ihr fehlt das Kleine, das Niedliche, denkt sie. Sie selbst, Bettina, hat nichts übrig für das Kleine. Sie hat noch nicht einmal ein Kind bekommen und jetzt, wo Bernhard weg ist, hat sie gar niemanden mehr. Manchmal, in der Nacht, hält sie die Hand neben sich in die Luft, als wollte sie über seinen Körper fahren. Sie weiß noch genau, wie er sich anfühlt, nackt, wenn sie mit der Hand über ihn drüberstreichelt. Er hatte immer still gelegen und sich nicht gerührt und nichts gesagt. Es hatte sich für sie immer so angefühlt, als hätte sie die persönliche Aufgabe, einen großen Mangel in ihm ausgleichen zu müssen, als hätte er eine Art Zärtlichkeitsloch in seinem Leben, das sie nie schaffen würde, aufzufüllen. Sie ihrerseits nahm für sich nicht viel in Anspruch, sie dachte, dass sie es einfach nicht brauchte, nicht wie er, und daher bekam sie auch kaum etwas. Aber vielleicht stimmte das nicht. Vielleicht war sein Stillliegen und Hinnehmen seine Zärtlichkeit für sie, denn ihre Hand war ja an seinem Körper und sein Körper berührte passiv ihre Hand, indem er da war und sich berühren ließ.

Sie findet den Gedanken dumm und dreht sich auf den Bauch. Aber die Liege riecht nicht gut und sie kann nicht schlafen. Sie denkt an Bernhard und daran, dass er gesagt hat, sie wäre kalt und er könne nicht weiter mit ihr leben.

Unten sitzen sie beisammen.

Die Mutter im Sessel. Sie hat einen nackten Fuß. Der Socken liegt auf dem Teppich. Sie bewegt ihre Zehen. Im Fernseher singt ein Chor: „Vom Himmel hoch.“ Es sind kleine Jungen, sie singen sehr hoch und ihr Gesang bohrt sich in den späten Nachmittag. Die elektrischen Lichter des Weihnachtsbaumes spiegeln sich im Fernseher, in den kleinen, blassen Gesichtern, in ihren aufgerissenen Mündern und in ihren aufgerissenen Augen. So voll dabei sein, so drin sein und überzeugt sein, das müsste man, denkt sie, in irgendwas.

„Was ist mit deinem Fuß?“, fragt sie die Mutter.

„Sie zieht sich nur immer die Sachen aus“, sagt der Vater. Er hockt sich nieder und zerrt ihren Socken wieder über den knubbeligen Fuß.

„Letzte Woche saß sie ohne Hose hier. Und Schützes Bernd kam rein, weil er mir den Stollen bringen wollte. Den wir heute essen. Den Marzipanstollen. Da sitzt sie nur in der Unterbüx. Ich war kurz an der Tür, ich sag ihm, er soll reinkommen und soll Hedda ‚guten Tag‘ sagen, da sitzt sie in der Unterbüx da. Man gut, es ging so schnell, dass ich mit ihm kam. Am Ende…“, er kichert.

„Meinst du“, fragt Markus, „sie hätt’ sich komplett nackig gemacht?“ Er grinst. Der kleine Matrose grinst nicht. Er sitzt ganz ernst und gerade auf dem Sofa. Er trägt ein dunkelblaues Hemd, ordentlich in die Jeanshose gesteckt. Er hat gelockte braune Haare und er sieht auf eine zarte Art sehr hübsch aus.

„Mutter, warum ziehst du dich denn immer aus?“, fragt Markus.

Sie winkt mit der Hand ab. „Mir is’ heiß“, sagt sie. „Die Heizung is’ doch auf zehn.“

„Auf zehn?“, sagt Markus. „Das geht doch gar nicht. Sie geht doch nur bis fünf.“

„Fünf?“, fragt die Mutter.

„Verwirr sie nicht!“, sagt der Vater und erhebt sich von ihren Füßen.

„Lass sie jetzt an“, befiehlt er seiner Frau. „Dein Fuß war eiseskalt.“

„Warum zieht Oma sich aus?“, fragt Juli. Sie spielt auf dem Handy ihres Vaters ein Spiel und kann nicht aufsehen.

(Nachts liegt Bettina schlaflos auf der Liege wie am Nachmittag, steht schließlich auf und geht runter. In der dunklen Küche sitzt Markus auf einem Stuhl und reißt Fleisch vom Gänsegerippe ab. Sie sieht, wie er es sich gierig in den Mund stopft. Er ist jetzt auf dem Weg, dick zu werden, und sie kann es sich nicht vorstellen, wie er mit dem zarten, lockigen Matrosenjungen zusammen ist, in der Nacht.

Das verstimmt sie und sie sagt: „Du frisst wie ein Schwein.“

Er hebt den Kopf.

„Betti, ich weiß. Ich bin unersättlich.“

„Du bist immer so“, sagt sie, „in allem.“

Er nickt.

Sie setzt sich zu ihm und zupft mit am Fleisch. Sie hat keinen Hunger, aber sie hat einen ähnlichen Drang. Seine Gier geht auf sie über. Es befriedigt sie ein bisschen.

„Siehst du“, sagt er und lächelt mit fettverschmiertem Mund.

Sie gibt ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Sein Hals riecht nach Rasierwasser.

„Markus“, seufzt sie.

„Mit Mutter wird es nicht besser“, sagt er, als wäre das die Antwort.

Im Supermarkt, bei den Tiefkühltruhen, trifft sie Bernhard mit einer Frau. „Bettina“, sagt er. Er sieht erschrocken aus. Sein sonst immer etwas zu langes Haar ist kurz geschnitten und unter der geöffneten Jacke trägt er ein dunkelblaues Hemd, ähnlich dem, das der kleine Matrose getragen hat. Sogar genau in dem gleichen schimmernden Dunkelblau, so kommt es ihr vor, und vielleicht ist es das Gleiche? Nur, dass dieses Hemd Bernhard zu eng ist. Am Bauch.

„Hallo Bernhard“, sagt sie und sieht dabei die Frau an. Die Frau ist klein, rotblond und hat einen abgebrochenen Vorderzahn, der vor allem deshalb zum Vorschein kommt, weil die Frau die ganze Zeit lächelt, breit, freundlich und wohlwollend. Die Frau, so scheint es, will ihr nur Gutes und weiß gar nicht, was los ist und wer sie ist und war. Vor einigen Wochen ja noch die Frau, die Bernhard mit Streicheln versorgte. Was jetzt vielleicht diese lächelnde Frau besorgt, aber das weiß sie nicht.

„Jessica“, sagt die Frau und reicht ihr die Hand.

„Entschuldigung“, sagt Bernhard, „das wär’ wohl meine Aufgabe gewesen.“

„Ach“, sagt Jessica.

„Bettina“, sagt Bettina.

„Und woher kennt ihr euch?“, fragt Jessica.

„Aus dem Bett“, sagt Bettina. Sie erschrickt sogleich über ihre eigene Bosheit, aber es liegt vielleicht auch an diesem falschen Hemd, das er sich neu gekauft haben muss, und das zu eng am Bauch ist. Er hatte in letzter Zeit so eine neue Neigung zu engen Hemden, wie zu Veränderungen, denkt sie, und er ist ja auch schlank, von der Statur her ist er schlank oder schmal und das hatte ihr immer gefallen, seine hochgewachsene Schlankheit, aber dazu hatte er einen Bauch bekommen, einen sichtbaren, runden Bauch. Ansonsten war an seinem Körper kein weiteres Fett angewachsen, nur dieser Bauch, der sich, selbst wenn er auf dem Rücken lag, hochwölbte, wie ein kleiner Planet. „Ein Männchenbauch“, hatte Markus gehöhnt, der selbst von allen Seiten gleichmäßig massig war.

„Also bitte“, sagt Bernhard. Er ist nervös. Aber Jessica lächelt immer noch und ihre Zahnlücke kommt Bettina immer hübscher vor. Möglicherweise, denkt sie, ist diese Frau eine echte Schönheit. Wie kommt er dazu, mit seinem Männchenbauch?

„Ach“, sagt Jessica, „ihr wart zusammen?“

Bettina zuckt mit den Schultern. Natürlich waren sie zusammen. Aber wie? Auf welche Art? Was ist das gewesen, im Nachhinein?

„Na, wir müssen jetzt auch mal“, sagt Bernhard.

„Wir sind jetzt…“, sagt Jessica und beendet den Satz nicht. „Ist es schon länger her?“

„Sechs Wochen“, sagt Bettina.

„Sechs Wochen? Das ist ja gar nicht lange.“

Bernhard, sieht sie, wird nervös. Er fummelt einen kleinen Zettel aus der Hosentasche und runzelt die Stirn. Er ist weitsichtig. Er muss den Zettel mit ausgestrecktem Arm von den Augen weghalten.

„Sechs Wochen?“, fragt Jessica jetzt an Bernhard gerichtet.

„Das muss doch jetzt nicht hier geklärt werden“, sagt er.

Wiebke und Daniel kommen hinzu, mit vollem Einkaufswagen.

„Bernhard“, sagt Wiebke, „das ist ja nett. Wie geht es dir?“

„Ganz gut“, sagt Bernhard. „Wir wollten nur gerade…, wir müssen uns beeilen.“

„Gar nicht“, sagt Jessica und Bettina fängt an, sie richtig zu mögen.

„Sechs Wochen“, sagt Jessica noch mal und langsam wird es Bettina klar, dass Jessica ihn schon länger als sechs Wochen kennt und vielleicht auch schon länger küsst und länger streichelt, wenn sie ihn streichelt. Wenn jede Frau sich dazu berufen fühlt, wenn er jede Frau darum bittet und jede Frau seinen Mangel erkennt und ausgleichen will.

„Ist hier irgendwas komisch?“, fragt Daniel. Er schwitzt schon wieder. Er zieht sich die Mütze vom Kopf und wischt sich über seine verschwitzte Halbglatze.

„Nein“, sagt Bettina, „Ich hab’ nur meinen alten Freund mit seiner neuen Freundin getroffen. Sowas kommt vor.“

„Tut mir leid“, sagt Bernhard, „mir wird das zu blöd. Einen guten Rutsch noch!“, und schiebt den Wagen mit den Einkäufen entschlossen in einen Gang. Daniel und Wiebke schieben hinter ihm her. Jessica bleibt noch.

„Und du warst vor sechs Wochen noch richtig mit Bernhard zusammen?“, fragt sie Bettina.

Bettina nickt.

„Das kann doch nicht sein?“

„Aber er hat sich nicht mehr wohlgefühlt“, beeilt sich Bettina zu sagen, „in der Beziehung. Das hat er gesagt. Es war nicht mehr so. Es war nicht mehr das Richtige.“

„Ja, aber…“, Jessica schluckt. „Aber wir haben uns dann ja…“, sie schluckt wieder und lächelt aber immer noch, „überschnitten.“

Bettina sieht sich nach Bernhard um. Aber Bernhard ist nicht mehr zu sehen. Wie es aussieht, denkt sie, hat er wieder einmal eine ganz fabelhafte Frau abgekriegt und hat es geschafft, sie schon ganz am Anfang unglücklich zu machen. Was hat er nur ein Talent dazu. Aber sie selbst ist jetzt weniger unglücklich. Wenn ein Mensch, denkt sie, ein anderer Mensch, einen gut behandelt, so wie Jessica sie, dann fühlt man sich, egal worum es geht, gar nicht so schlecht.

„Es muss dir nicht leid tun, jedenfalls nicht wegen mir“, sagt sie deshalb, „aber wenn du denkst, er hat dich belogen, dann ist da was dran.“

Draußen auf dem Parkplatz stürmt es. Papier und Plastiktüten fliegen umher. Kleine Äste und Zweige sind von den Bäumen gebrochen und die Leute stopfen mürrisch und mit wehenden Haaren ihre Einkäufe in die Kofferräume. Es ist zu warm für Dezember, aber es ist ja immer falsch, das Wetter, denkt sie, und die Stimmungen und wann man jemanden trifft und wie man denkt und was man sagt, alles ist so oft falsch. Zu manchen Zeiten überollen einen diese Dinge einfach, sie passieren einfach, ohne dass man sich dagegen wehren kann. Und vielleicht, denkt sie weiter, ist es manchmal sogar das Beste, vielleicht ist dieses Falsche dann das Beste. Denn jetzt, nach diesem Einkauf, ist ihr Verhältnis zu Bernhard noch im Nachhinein ein anderes geworden, hat sich von einer anderen Seite gezeigt, hat sich ins Tageslicht gestellt und hat ihre Trauer gedämpft. Was ist ihre Trauer überhaupt gewesen? Sie beneidet Jessica nicht. Sie möchte Bernhard nicht mehr streicheln. Sie ist auf einmal, ganz plötzlich, mit ihm fertig geworden. Sie ist fast froh, als sie hinten in den Wagen einsteigt, den Kopf einzieht, sich auf den Rücksitzen zusammenkrümmt, sich durch den Wind fahren lässt, durch die schmutzigen Straßen, wo allerhand Weihnachtsmüll zusammengekommen ist, die Beleuchtungen auf den Balkonen, die aufgeblasenen Weihnachtsmänner, aus denen langsam die Luft entwichen ist, die schmutzig und schlaff an den Hauswänden emporkriechen und nie dort ankommen, wo es Geschenke gibt, und sie lächelt wie Jessica mit dem abgebrochenen Schneidezahn.

„Ich weiß nicht“, sagt Markus, „der war doch schon immer so ein Hampelmann.“

Sie nickt. Aber sie erinnert sich, und das Bild, in abgeschwächter Form, überwältigt sie immer noch. Er steht in ihrer Küche am Fenster und spielt Geige. Er spielt mit weit aufgerissenen Augen, er spielt und er sieht sie die ganze Zeit an, mit einer Innigkeit, als würde er die Musik in sie reinspielen können. Sie hat keine Ahnung vom Geigenspiel, aber dieses Geigenspiel war jedenfalls das beste Geigenspiel, das sie jemals gehört hatte, es war wie eine Verzauberung, sie war verzaubert worden, und sie war sofort bereit gewesen, ihm etwas Ähnliches zu bieten, wie zum Beispiel, als sie es herausgefunden hatte, ihn zu streicheln.

„Sein Gefiedel“, sagt Markus, „ist mir mächtig auf die Eier gegangen.“

Sie spazieren an der Ostsee entlang. Es ist windig und der Wind reißt ihnen die Gespräche von den Lippen. Aber der Wind bläst ihnen auch etwas von der überhitzten, überfressenen Festtagstrübseligkeit hinweg. Ihre Mutter ist eingepackt wie eine eine dicke, kleine Puppe. Sie läuft am Arm ihres Vaters und putzt sich häufig die Nase. Sie sagt wiederholt: „Schön ist das schon hier, nicht Rudi?“

Wegen ihr kommen sie nur langsam voran, denn sie geht sehr langsam und bleibt immer stehen und schnuppert in der Luft, wie ein kleines Tier und sieht sich alles an und freut sich. Allein deshalb, denkt Bettina, hat es sich gelohnt.

„Fährst du denn nie mit Mutter ans Meer?“, fragt Wiebke.

„Ans Meer?“, fragt ihr Vater erstaunt.

„Ist doch nicht weit“, sagt Wiebke, „kannst du doch machen.“

„Was soll ich denn…?“, fragt ihr Vater. „Ich fahr doch nicht mit Hedda ans Meer.“

„Nie?“, fragt der kleine Matrose. „Fahren sie nie ans Meer?“

Ihr Vater schüttelt heftig den Kopf.

„Sowas machen wir nicht.“

Da wendet sich Wiebke an den kleinen Matrosen.

„Dich beeindruckt das sicherlich nicht. Für dich ist das ja etwas ganz Gewöhnliches.“

„Das Meer“, sagt er feierlich, „ist nie etwas ganz Gewöhnliches.“

Markus lacht und schubst ihn so heftig, dass er in den Sand fällt.

„Was denn sonst? Gewöhnlicher kann was gar nicht sein, als das alte Wasser. Du bist wirklich romantic, wat?“

Der kleine Matrose lächelt, steht auf und klopft sich ab. Es scheint ihn nicht zu verunsichern und auch nicht zu kränken.

„Warum musst du immer so gemein sein?“, fragt Wiebke.

„Warum ist Markus gemein?“, fragt Juli, aber niemand antwortet ihr.

Sie trägt einen dicken Schneeanzug und lässt sich alle paar Meter in den Sand fallen.

„Schön ist das hier“, sagt ihre Mutter und bückt sich nach einem Stein.

„Was willst du mit dem Stein?“, fragt ihr Vater.

„Man könnte ihn fassen lassen“, sagt ihre Mutter.

„Diesen Stein?“, fragt Wiebke. Sie ist fassungslos. Der Stein ist etwa halb so groß wie die Hand ihrer Mutter, er ist weder glattgeschliffen noch sonst irgendwie schön. Er ist braun und kantig und hat nichts, was nicht jeder andere Stein hätte.

„Zeig mal her“, sagt Markus und nimmt ihr den Stein aus der Hand.

„Außergewöhnlich“, sagt er, grinst und gibt ihn ihr wieder zurück.

„Das Meer“, sagt der kleine Matrose, als wären sie noch beim Thema, „ist meine Braut.“

„Ich dachte, das wär’ er“, sagt Daniel und weist auf Markus.

„Ich möchte nicht“, sagt ihr Vater, „dass ihr so redet. Vor Hedda.“

„Wie redet?“, fragt Markus. „Über Schwulsein? Dass wir schwul sind?“

Der Vater schweigt. Er hat ihre Mutter auf einer Seite untergehakt. In der anderen Hand trägt er ihren Stein.

„Mutter“, sagt Markus und stellt sich vor ihnen auf, so dass sie beide stehen bleiben müssen. Sein Haar fliegt im Wind und sein Gesicht ist von Wind und Kälte gerötet. Seine Hände stecken in seinen Jackentaschen.

„Mutter, ich bin schwul.“

Imke Staats

■ 48, studierte Illustration an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. Schlägt sich mit Zeichnen,-Lehren und anderen Jobs durch. Verlässt das Haus nur mit Skizzenbuch.

Ihre Mutter lächelt unsicher und nickt.

„Schön ist es hier“, sagt sie.

„Du hast es ihr doch schon hundertmal gesagt“, sagt Bettina.

Markus zerrt den kleinen Matrosen am Arm heran. Er greift seinen Kopf mit beiden Händen und küsst ihn heftig den Mund. Der kleine Matrose macht sich los. Er schlägt mit der Faust auf Markus ein, er schlägt ihn auf die Schulter und den Arm, blind schlägt er und Markus steht still und nimmt es hin.

„So Mutter“, sagt er, „hast du das jetzt verstanden?“

„Nicht doch“, sagt ihre Mutter und ihre Lippe zittert, als wollte sie gleich in Tränen ausbrechen.

„Siehst du“, sagt ihr Vater, „was du angerichtet hast!“

Der kleine Matrose läuft weg, läuft den Strand entlang, wird immer kleiner und sie erinnert sich daran, wie er ihr entgegen kam, auf der nebligen Brücke und sie würde gern irgendwas für ihn sein, irgendwas.

Bettina und Markus können erst viel später als die anderen mit ihrem Wagen nach Hause fahren, weil er erst dann zurückkehrt. Er kommt angeschlendert, als hätte er gewusst, dass sie auf ihn warten würden. Er steigt wortlos hinten ein und erst nach einer Weile sagt er: „Tut mir leid, aber ich fühle mich einfach nicht wohl. Morgen fahr’ ich nach Hause.“

Am Morgen aber bleibt er. Am Morgen ist es so, wie es auch vorher war, und Bettina fragt sich, ob es immer in allen Beziehungen einfach so weiter geht, weil es sich alles immer im Kreis dreht.

Sie stehen draußen unter dem Vordach und beobachten den Helikopter, der seine Kreise über den Kartoffelbeeten zieht, über dem Kompost und schließlich um die kahle, hohe Birke herum. Markus raucht. Er trägt seine graue, löchrige Jogginghosen und seinen alten Parka. Er gibt sich keine Mühe, gut auszusehen, denkt sie, nicht mal für ihn, er nimmt ihn ja kaum wahr, denkt sie und sie ist wieder empört.

Es nieselt ganz leicht. Der Nachmittag lässt sich kaum mehr von einem Abend unterscheiden, er ist wattig grau und schwer. Drüben bei den Simones spielt einer Trompete und das Lied klingt falsch und schön. Bettina atmet das Draußen ein, Erde, Moder, feuchtes Holz und Rost. Drinnen nimmt ihr Vater, nach langer Ankündigung, jetzt ein Bad und niemand kann für längere Zeit mehr pinkeln gehen. Sie wirft einen Blick zwischen den Gardinen hindurch in das Wohnzimmer. Ihre Mutter zieht sich mühsam das Unterhemd über den Kopf. Sie trägt einen rosa BH. Ihre Brüste liegen auf ihrem Bauch. Auf dem Sofa sitzt der kleine Matrose. Er sitzt ganz steif und er starrt auf den Fernseher.

„Markus?“, sagt sie, Markus tritt die Zigarette aus und schaut mit ihr durch die Untergardine aus dem Dunkeln in das hell erleuchtete Wohnzimmer. Markus grinst.

„Schönes Ding“, sagt er.

„Willst du ihm nicht helfen?“

„Warum?“, sagt Markus. Es erheitert ihn.

Dann dreht sich ihre Mutter zum kleinen Matrosen hin und teilt ihm etwas mit. Er sieht erschrocken aus. Er ist ganz erschrocken, wird es ihr klar, auf diesem Sofa, in dieser Wohnung, in dieser Familie.

Juli läuft in Strumpfhosen und Gummistiefeln durch den Garten. Sie trägt einen Pullover, aber keine Jacke. Niemand sagt, sie soll sich etwas anziehen. Ihre Eltern sind zum Einkaufen gefahren. Juli steuert den Helikopter immer höher um die stolze Birke herum und dann stürzt er ab, in die Birke hinein und bleibt in der Birke hängen. Die Propeller zappeln und surren, aber der Helikopter hängt fest.

„Da hast du’s“, sagt Markus.

„Markus, hol ihn runter“, befiehlt Juli.

Markus geht zum Birke, rüttelt am Stamm, aber der Stamm bewegt sich nicht und der Helikopter hängt fest. Markus nimmt all seine Kraft und rüttelt, was er kann. Dann hört er auf.

„Du musst hochklettern“, sagt Juli.

Markus sieht an der Birke hoch und schüttelt den Kopf. „Da kann man nicht hochklettern.“

Bettina geht ins Haus. Im Wohnzimmer kratzt sich ihre Mutter am nackten Bauch. Ihr Pullover und ihr Unterhemd liegen zu ihren Füßen auf dem Teppich. Das Unterhemd, sieht sie, hat ein Loch. Sie hebt beides auf und legt es auf einen Stuhl.

„Ist dir warm, Hedda?“, fragt sie.

„Ach“, sagt ihre Mutter, „sie geben mir doch die Möglichkeit…“ Sie weiß nicht mehr, wie der Satz weitergeht. Sie lächelt. Sie dreht sich wieder glücklich zum kleinen Matrosen hin, und nickt ihm zu, als würden sie sich besonders gut verstehen.

„Was macht ihr so da draußen?“, fragt der kleine Matrose.

„Der Helikopter hängt in der Birke.“

„In der Birke?“, fragt er, Hoffnung in der Stimme.

Sie nickt.

Der kleine Matrose steigt in die Birke wie in die Masten eines alten Segelschiffes. Wind reißt die Wolken auf und eine tief glühende Sonne taucht den Garten in ein feuriges Licht. Die Fensterscheiben im Haus der Simones brennen und die Trompete spielt La Paloma.

Der Stamm ist glatt, aber der kleine Matrose hat seine Technik, Arme und Beine um den Stamm gewickelt, rutscht er langsam hoch. Weiter oben greift er in die Äste.

Markus ruft: „Komm runter. Das ist doch verrückt!“

Aber sein Gesicht, sieht Bettina, sein Gesicht glüht in der alten Sonne.

Der kleine Matrose klettert immer höher und wird immer kleiner. Einmal hält er an und winkt mit dem Arm und Juli ist die einzige, die zurückwinkt. Sie ruft: „Du bist so to-holl!“

Oben, fast schon an der Spitze, da wo der der Helikopter hängt, wird die Birke schmaler und nachgiebiger und biegt sich unter seinem Gewicht und zieht ihn schwankend mit sich hin und her, aber er hängt an ihr dran, wie ein Eichhörnchen.

Sie hört Markus, wie er neben ihr schwer atmet. Sie sieht ihn an, sieht, wie sein Gesicht verzerrt ist. Aber jetzt, wo es auch ihr wirklich verrückt vorkommt, gefährlich, sehr gefährlich sogar, jetzt sagt er nichts mehr.

„Jetzt“, ruft der kleine Matrose von oben, „Start!“ Auf seiner Hand sitzt der Helikopter wie ein großes Insekt.

Markus steht unter dem Baum und fängt den kleinen Matrosen ab, bevor er am Stamm ganz nach unten gleiten kann. Er klaubt ihn direkt vom Stamm ab, stellt ihn vorsichtig auf, dreht ihn um und nimmt ihn in seine Arme, drückt ihn an seinen massigen Körper, legt seinen Kopf auf seinen Kopf, schließt die Augen und wiegt sich mit ihm zu einem stummen Lied.

Auf Bettinas Gesicht liegt eine feine Nässe. Die Trompete spielt nicht mehr, die Sonne ist längst wieder weg, es ist dunkel und ihr rot dampfender, frisch gebadeter Vater steht mit einer Rakete in der Hand in der Haustür.

„Eine schon mal steigen lassen?“, fragt er.

„Wegen mir“, sagt sie, „ab damit.“