: Schnappatmung für alle
SHOW Wird der Herr die Dame fangen? Diesem Team zuzuschauen lässt einen über Vertrauen nachdenken. Mit Touris und Ickes bei „The Wyld“ im Friedrichstadtpalast
VON JENNI ZYLKA
Diese Pudel! Mag sein, dass in indischen Zirkussen und deutschen Zoos geschundene Kreaturen in Minikäfigen ihr Leben fristen, die Fesseln aufgescheuert von Fußschellen, und abendlich mit der Peitsche durch Feuerringe gejagt werden. Aber diese Pudel dort vorn, auf der Bühne des Friedrichstadtpalastes, die sehen aus, als würden sie den ganzen Tag nur eine Frage in ihren imposant ondulierten Pudelköpfen bewegen: Wann geht die Show endlich los?
So fröhlich kommen die Kläffer auf die Bühne gewetzt bei der zehnten Nummer von „The Wyld“, dass man direkt mitbellen möchte. Scheint sich eben pudelwohl zu fühlen, der „Pudel Strudel“, den die Tiertrainerin Jana Posna „nach den neuesten Richtlinien der Hundeerziehung mittels Belohnung und positiver Bestärkung“ (so das Presseheft) trainiert: Die weiße vierbeinige Perücke hüpft hasengleich über Hindernisse, das Beehive-Wollknäuel in Orange krabbelt unten durch und freut sich wie Bolle über sein Frolic-Pralinchen, jedenfalls wenn man das Wedeln der Puderquaste am Hinterteil richtig deutet.
Der extra eingerichtete Pudelaufenthaltsraum, in dem die Köter vor und nach ihren Auftritten abhängen und ihren Text durchgehen, wurde übrigens vom Amtstierarzt des Bezirks Mitte/Tiergarten begutachtet und für sehr gut befunden. Ein schönes Hundeleben.
Aber zum Pudelauftritt ist man eh schon ganz gut in Stimmung: Dieses amtliche Stück Varieté, das der Modedesigner, Fotograf und Unternehmer Manfred Thierry Mugler hier als Regisseur und Kostümbildner gemeinsam mit dem Showmacher Roland Welke und vielen ChoreografInnen, BühnenbildnerInnen und KomponistInnen erdacht hat, ist „nicht von dieser Welt“, genau wie es die Unterzeile vollmundig vorwegnimmt. Seit Oktober läuft die Show mit dem größten Produktionsbudget (10 Millionen Euro) in der 95-jährigen Geschichte des Hauses. 1.895 Plätze sind pro Vorführung zu füllen, aus 28 Ländern kommen die TänzerInnen, und die beiden fast täglichen Vorstellungen sind nicht selten gut besucht oder ausverkauft.
Grandios überbudgetiert
Und ja, man kann natürlich kritisch fragen, inwieweit das in Bild und Ton etwas mühsam als roter Faden postulierte Oberthema „Sie sind unter uns“ (also die Aliens) einfach nur als grandios überbudgetierte Werbeveranstaltung für Mugler-Produkte wie beispielsweise sein Parfum „Alien“ und sein Parfum „Angel“ herhält – zumal die Aliens beim großen „Alien Ball“-Finale auch noch einen blinkenden „Angel“-Logostern auf ihren silbernen Catsuits tragen. Man könnte darüber nachdenken, ob die Lady-Gaga-Kostüme, die Quality-Street-Roben, die bunten Steptanz-Fetzen wirklich gut aussehen oder einfach nur überkandidelt. Und darüber, ob der chinesische Nationalcircus das nicht auch alles liefert, nur ohne Glitzerbikinis und Pathosgesang – schließlich können selbst die großartigsten Artisten das Radschlagen nicht neu erfinden.
Aber das wäre geschmäcklerisch: Eine Zirkusshow wie diese muss den kleinsten gemeinsamen Nenner eines größtmöglichen Publikums finden, und der besteht – immer noch – im knappen Hupfdohlenoutfit samt Perücke einerseits und viel Körperbeherrschung andererseits. Was eben herauskommt, wenn man Freddy Mercurys legendäre 40. Geburtstagsparty, ein Madonna-Video und Peewee’s Playhouse gleichzeitig inszeniert.
Insofern kann man Manne Muglers Einfälle getrost genießen. Die Nofretete-Nummer zum Beispiel, bei der güldene Tänzerinnen mit güldenen Nagelspitzen gestikulieren, und Nofretetes bf (best friend) eine zwei Meter große Plateau-Overknee-Dragqueen mit Stringtanga ist, deren Perücke auf einem 80 Zentimeter hohen Drahtgestell sitzt. Was natürlich nicht heißen muss, dass der bf ein gbf (gay best friend) ist. Oder den Ungarn namens Balázs Földváry, der sich der sogenannten BMX-Artistik verschrieben hat und wie wild auf diesem für Einkäufe ungeeigneten kleinen Rad herumturnt und damit einmal mehr Berlin-Bezüge – Großstadt, Grafitti auf Mauer, BMX-Rad im Park – herbeizitiert. Oder „Lava Love“: Die Bühne fährt hoch, darunter stehen – unter anderen – zwei große Wassertanks in Lavalampenform, in denen je eine Synchronschwimmerin najadengleich in einem Latexkostüm umherpaddelt und nur geschätzt alle zwei Minuten mal kurz Luft holt – wie wenig asphyxieanfällig müssen diese Shownixen sein! Latexmaske und Apnoetauchen – schon eines der beiden reicht bei manchen Menschen zur Schnappatmung.
Aus der klassischen Zirkus-Sideshow kommt der starke August, aber eigentlich heißt die Kunst des lässigen Auf-einer-Hand-Stehens Equilibristik und das hier verantwortliche Ensemble „White Gothic“: Vier Männer, die so stark sind, dass man kaum hingucken kann. Balancieren da tatsächlich drei von ihnen auf Füßen und Händen des einen, der auf dem Boden liegt? Aua!
Das „Duo Markov“ macht Ähnliches an einem baumelnden Stab, in diesem Fall der Antenne der Fernsehturmkugel, auf der ein großer Teil der Show spielt: Der Herr schmeißt seine Dame in der Luft hin und her, bis man sie schon fast auf den imaginären Alexanderplatz plumpsen sieht. Aber sie fällt und fällt nicht, und diesem Team zuzuschauen lässt einen über Vertrauen nachdenken: Und wenn er jetzt mal kurz abgelenkt ist? Einen Tatter hat? Aus solch tragischen Unfällen wurden schon ganze Kinofilme geplottet.
Musikalisch windet sich die Show derweil vom mit wuchtigen Musicalstimmen vorgetragenen „The Wyld“-Thema über das vermutlich nur knapp an einer Copyrightklage vorbeiratternde „Mein Herr“ (aus „Cabaret“) bis hin zu rockigem CanCan, damit die Damen endlich ihre langen Beine schwingen können.
Zirkus mit Tierdressur, Akrobatik und Musik gibt es seit 1768, als ein englischer Dressurreiter eine Arena in London eröffnete, sie nach römischem Vorbild „Circus“ nannte und zwischen den Acts Pantomimen auftreten ließ. So viel hat die riesige The-Wyld-Crew rund 250 Jahre später also gar nicht geändert, sogar ein Pantomime gibt zwischen den Nummern den verwunderten Zuschauer. Nach dem opulenten Kladderadatsch stolpert man mit Touris und Ickes zurück auf die nasse Friedrichstraße. Und nimmt sich fest vor, mal wieder Damenspagat zu üben.
■ „The Wyld“, bis 10. Januar im Friedrichstadtpalast