: Heimstatt inmitten des braunen Alltags
GEDENKEN Seit Anfang der Woche erinnert eine Tafel in Prenzlauer Berg an das jüdische Auerbach’sche Waisenhaus. Für den Zeitzeugen Walter Frankenstein ist damit ein Wunschtraum in Erfüllung gegangen
Walter Frankenstein
Walter Frankenstein ist aus Stockholm an den Ort seiner Kindheit zurückgekehrt: Berlin Prenzlauer Berg, Schönhauser Allee 162. Der 87-Jährige steht an einer gemauerten Einfahrt im Hinterhof zwischen Neubauten, einen kleinen Park im Rücken. Ein „Wunschtraum“ sei „in Erfüllung gegangen“, sagt er. Denn an diesem Montag wird draußen am Bürgersteig eine Gedenktafel enthüllt, die an sein Zuhause erinnert: das jüdische Auerbach’sche Waisenhaus.
„Hier haben wir gelebt wie auf einer Insel im brauen Meer“, erzählt der agile Rentner, der 1936 als 12-Jähriger in das Waisenhaus kam und bis 1941 blieb. Die Heimleitung sorgte dafür, dass die Kinder von der Nazi-Herrschaft möglichst wenig mitbekamen. „Baruch Auerbach’sche Waisen-Erziehungsanstalt – der Name klingt furchtbar“, sagt Frankenstein, der als Ehrengast und einer der letzten überlebenden Zöglinge zur Zeremonie gekommen ist. „Dabei war es wunderbar: Wir hatten Musikabende, es wurde uns vorgelesen und wir bekamen Karten für das jüdische Theater, solange das noch erlaubt war.“
Die Geschichte der Einrichtung geht bis auf das Jahr 1833 zurück, als Baruch Auerbach das erste jüdische Waisenhaus in Berlin – damals noch an anderer Stelle – eröffnete. Ein „Elternhaus für die Waisen“ schwebte ihm dabei vor, keine Kinderbewahranstalt. 1897 wurde der Komplex in der Schönhauser Allee bezogen, in dem auch eine öffentliche Synagoge untergebracht war.
Mit der Machtübernahme der Nazis 1933 mussten sich die Auerbacher, wie sich die Bewohner selbst nannten, mehr und mehr Einschränkungen und Verboten beugen, und spätestens 1938, bei der Pogromnacht, war es vorbei mit einer behüteten Erziehung jenseits des braunen Alltags, der direkt hinter den Mauern des Waisenhauses begann. Nur mit viel Glück und der Entschlossenheit einer Erzieherin gelang es, die Synagoge vor der Zerstörung zu retten. Frankenstein erinnert sich, dass die Nazis dort die ewige Flammen löschten und ausströmendes Gas beinahe eine Explosion auslöste.
1942, ein Jahr nach Beginn der Deportationen der deutschen Juden in die Vernichtungslager, endete die Geschichte des Auerbach’schen Waisenhauses mit dem Mord der Kinder. Sie wurden auf Lastwagen verladen, zur Deportationssammelstelle gefahren und dort in die Züge nach Osten verladen. Am 19. Oktober verließ der „21. Berliner Osttransport“ den Güterbahnhof Moabit. Unter den 959 Insassen befanden sich 56 Kinder aus dem Waisenhaus. Der Zug endete im besetzten Riga, wo alle Kinder sofort erschossen wurden. Gut einen Monat später fuhr ein zweiter Zug nach Auschwitz, an Bord 66 Auerbacher. Keines der deportierten Kinder überlebte. Das Jüngste war gerade einmal ein Jahr alt.
Danach übernahm die Hitlerjugend das Gebäude. Die Nazis hatten daran nicht lange Freude, denn bald darauf zerstörte ein Angriff der Alliierten fast den gesamten Komplex. Die Reste ließ die Stadt zu Beginn der 1950er Jahre abtragen. Es blieb nichts übrig außer einem kurzen Mauerrest im Hinterhof.
Walter Frankenstein hat die Nazizeit überlebt, versteckt in Berlin, gemeinsam mit seinen beiden Kindern und seiner Frau Leonie, die vor zwei Jahren verstorben ist und deren Bild bei der Gedenkfeier auf einem Tischchen neben ihm in der Toreinfahrt steht. Er hatte sie damals im Waisenhaus kennen gelernt.
KLAUS HILLENBRAND
■ Klaus Hillenbrand ist Autor von „Nicht mit uns. Das Leben von Leonie und Walter Frankenstein“ (Jüdischer Verlag, 2008, 251 Seiten, 19,80 Euro)