: „Der Kampf gegen die Trägheit ist nie gewonnen“
TAZ-SERIE MÜSSIGGANG (2) Wo Faulsein anfängt, liegt im Auge des Betrachters, sagt der Berliner Philosoph Guillaume Paoli. Denn Faulheit ist ein relativer Begriff. Dabei braucht der Mensch Müßiggang in den schnelllebigen Zeiten des digitalen Fortschritts mehr denn je
■ Jahrgang 1959, Franzose, seit Anfang der 90er Berliner. Philosophiestudium nie beendet, verfasste 1996 das Manifest der „Glücklichen Arbeitslosen“, war auch Demotivationstrainer, von 2008–13 Hausphilosoph am Leipziger Centraltheater. Am 6. Januar Diskussionsgast der Volksbühne zum Thema „Im Reich des kleineren Übels. Liberalismus und Liberalismuskritik“.
INTERVIEW ANNE HAEMING
taz: Herr Paoli, ein Interviewtermin am Montagmorgen um 9 Uhr – sonderlich faul wirkt das nicht.
Guillaume Paoli: Ich habe nie behauptet, dass ich faul bin. Es gibt aber Faulenzer, die extra früh aufstehen, um mehr Zeit zu haben, nichts zu tun und den Tag mehr zu genießen.
Wann genau ist man denn faul?
Den Faulheitsbegriff gibt es in allen Kulturen: Das sind Menschen, die nicht der gängigen Norm entsprechen. Es gibt faule Räuber, faule Liebhaber, Menschen eben, die weniger tun als alle anderen. Aber es liegt im Auge des Betrachters, das ist wie beim Autofahren: Wenn ich auf der Autobahn einen langsamen Fahrer überhole, denke ich, ich bin schneller – aber dann kommt von hinten einer angerast, für den ich der Lahme bin. Es gibt immer Menschen, die schneller und produktiver sind als andere.
Könnte man nicht einfach Müßiggang sagen?
Das klingt nicht so negativ. Müßiggang ist in unserer Hochleistungsgesellschaft kaum noch zu verwirklichen. Auf Altgriechisch hieß es „theoria“, also Theorie, das Gegenteil von Praxis – das war den Sklaven vorbehalten. Auch im Römischen Reich gab es ein Recht auf „otium“, also Müßiggang, für alle, die keine Sklaven waren. Und die, die keine Aristokraten waren, wurden aus der Staatskasse finanziert, eine Art Existenzminimum. Da war Ruhe in der Gesellschaft. Aber nicht wirklich ein Ideal: Muße war nur möglich, weil es Sklaven gab, die gearbeitet haben.
Heute übernehmen Menschen in Billiglohnländern die Arbeit.
Ja, man glaubt an die technische Befreiung von der Arbeit dank Roboter und Maschinen. Das Problem: Das Ganze wird nur ausgelagert, denn jene Maschinen werden etwa in China produziert – Outsourcing ist keine Befreiung.
Dass durch technischen Fortschritt mehr Zeit da ist, ist doch eine Illusion. Im Gegenteil, mit der Digitalisierung scheint Zeit knapper zu werden. Ja, weil wir immer noch produktiver werden müssen. Zugleich hebt sich der Gegensatz zwischen Arbeit und Konsum auf: Man sitzt am Computer und kann produzieren oder konsumieren, arbeiten oder Freizeit genießen, aber mit der gleichen zeitlichen Intensität. Dieses veränderte Lebenstempo hat Dinge wie Arbeitssucht und Konsumsucht hervorgebracht. Die Frage, was faul ist, stellt sich da ganz neu: Denn der Süchtige ist getrieben, er leistet keinen Widerstand, trifft keine Entscheidungen – das ist für mich faul. Es ist anstrengend geworden, sich diesem Rhythmus zu entziehen.
Aber Selbstbestimmtheit im Berufsalltag scheint der jüngeren Generation wichtiger zu sein: Sie wollen keinen Dienstwagen, sondern lieber mehr Freizeit. Zählt das nicht als Gegenbewegung?
Ich weiß nicht, wie die Jüngeren es wirklich schaffen, Grenzen zu ziehen. Die Digital Natives sind ja damit aufgewachsen, dass es keine klare Trennung mehr zwischen Arbeit und Freizeit gibt. Offline sein fällt ihnen schwer, es geht nur noch um Effizienz und Erfolg. Nicht falsch verstehen, ich trauere nicht der Zeit hinterher, als Menschen zwölf Stunden in der Fabrik oder im Bergbau gearbeitet haben. Vielleicht ist es eine Altersfrage: Leute in meinem Alter wissen, wie es vorher war, und können die Vorteile von heute mit den Vorteilen von früher kombinieren.
Schalten Sie denn Ihr Internet oder Handy regelmäßig ab?
Zu wenig. Ich bin nicht immer konsequent. Und wie schaffen Sie es, sich jenem Effizienzrhythmus zu entziehen?
Es gibt Zeiten, in denen ich persönlich mit viel Anstrengung etwas tue, weil ich ein Ergebnis will. In anderen Zeiten lasse ich mich gehen. Jeder Mensch hat diese beiden Pole, Ruhe und Unruhe, Aktion und Kontemplation, Aktivität und Passivität. Entweder man ist träge und wird depressiv – oder hyperaktiv und damit auch frustriert. Kinder können diese Balance noch leichter finden, wir Erwachsene haben es verlernt. Ich versuche, dazwischen zu navigieren. Aber auch gegen die Neigung zur Trägheit muss man kämpfen. Und dieser Kampf ist nie gewonnen. Es ist wie die Suche nach der Weisheit, sie dauert ein Leben lang.
Sie wurden für die Kontemplation sogar bezahlt: Bis vor einem Jahr waren Sie „Hausphilosoph“ am Leipziger Centraltheater. Und jetzt?
Jetzt bin ich frei, mich selbst auszubeuten. Ich mache eine Veranstaltung für die Volksbühne und schreibe an einem Buch.
Worüber?
Das entwickelt sich noch.
Haben Sie feste Arbeitszeiten?
Mein Hauptproblem ist: Ich bin überhaupt nicht geeignet für Multitasking. Andere dagegen können ihre Zeit wunderbar einteilen. Das ist mir nicht gegeben. Es gibt Phasen, in denen ich nur schreibe – und andere, in denen ich ruhe.
Wie ist die Haltung zum Nichtstun in Frankreich, Ihrer Heimat?
■ Die ruhigen Tage zwischen Weihnachten und dem ersten Arbeitstag sind Tage der Entschleunigung. Das ganze Land schaltet ein paar Gänge zurück, wird leiser. Die Tage sind erfüllt mit Völlerei, Wiederholungen im Fernsehen, dicken Wälzern, Ausschlafen, langen Spaziergängen … Die taz hat für die entspannten Tage „zwischen den Jahren“ die passenden Ausreden: In der Serie dreht sich seit gestern alles um Faulheit in den unterschiedlichsten Facetten. In der gestrigen taz kam ein Coach zu Wort – heute ein Philosoph. Sie erklären, warum Müßiggang so gut und richtig wie wichtig ist!
Die protestantische Ethik ist ja schon sehr deutsch. Der Hang zur Selbstlüge ist in Frankreich stärker. Man hat von sich selbst das Bild, das Leben zu genießen, alles etwas gelassener und langsamer anzugehen. Das ist eine Mischung aus Selbsttäuschung und Nostalgie. In den 70ern, als ich Teenager war, war diese Haltung normal. Ich habe damals nie an Karriere und einen Job gedacht, mein Studium habe ich nicht beendet. Aber so zu leben kann man sich heute nicht mehr leisten. Die Produktivitätsrate der beiden Länder unterscheidet sich kaum. Die Deutschen sind also vielleicht einfach ehrlicher.
Nichtstun ist hier eher gesellschaftlich geächtet, man denke nur an den Begriff der „sozialen Hängematte“. Als Sie 1996, als Sie selbst arbeitslos waren, die Initiative der Glücklichen Arbeitslosen gründeten, wollten Sie also vor allem provozieren? Wir haben die Faulheit als Kampfbegriff benutzt. Das war die Zeit, als Gerhard Schröder gesagt hat, es gebe kein Recht auf Faulheit in diesem Land. Hartz IV gab es noch nicht. Man konnte damals Arbeitslosenhilfe bekommen, ohne dabei in finanzielle Not zu geraten, hatte viele Freiräume. Indem wir uns selbst als faul bezeichneten, entschärften wir die Beleidigung.
Wir definieren den Wert einer Person oft über Produktivität. Lässt sich übers Faulheitsprinzip herausfinden, was von einem übrig ist, wenn man arbeitslos ist oder erkrankt?
Das ist eine existenzielle Frage: Wie definiere ich Selbstwert? Ich denke da immer an den Handwerker: Wenn er einen Tisch baut, weiß er anhand bestimmter Kriterien, ob er gelungen ist oder nicht. Egal, ob ihn einer kauft oder nicht, also unabhängig vom Marktwert. Solche Kriterien zur Selbsteinschätzung fehlen den Menschen heute. Ihnen geht es um Likes bei Facebook – auch das eine Marktlogik.
Wie finde ich solche Kriterien?
Da gibt es keine patentierte Lösung. Aber es gibt eine allgemeine Sehnsucht nach Kriterien. Denn „gut“ und „schlecht“, „sinnvoll“ und „sinnlos“ ist nicht mehr klar definiert. Und es braucht Grenzen: Nur so gibt es auch Freiraum. Das findet man für sich heraus, indem man Zeit hat, Dinge zu machen, ohne auf ihren Marktwert zu schielen. Etwa wenn man ein paar Monate lang keinen Job hat.
Es müssen ja nicht mehrere Monate sein. Kann man das auch in der Zeit zwischen den Jahren schaffen?
Viele sind in der Zeit besonders depressiv, weil sie diese Verlangsamung nicht mehr gewohnt sind. Es heißt immer: Leute, die keine Aufgabe haben, leiden. Ja, aber eben wie ein Drogensüchtiger, der keinen Stoff mehr hat. Daher ist es empfehlenswert, regelmäßig Momente zu finden, in denen man innehält. Etwa in der Zeit zwischen den Jahren – auch wenn das keine selbst gewählte Langsamkeit, sondern eine institutionelle ist. Das ist dann so was wie eine Entzugskur.
■ Blog: guillaumepaoli.de