: Die Hilfe der Boheme
SOLIDARITÄT Mit „Le Havre“ hat Aki Kaurismäki einen für seine Verhältnisse sehr optimistischen Film über das Problem der afrikanischen Flüchtlinge in Europa und nebenbei auch eine Hommage an das klassische französische Kino gemacht
VON WILFRIED HIPPEN
Wer die Filme von Aki Kaurismäki kennt und mag, wird es sich in den ersten Szenen von „Le Havre“ bequem machen, als würde man einen alten Freund besuchen. Marcel ist ein typischer Kaurismäki-Held: ein erfolgloser Schriftsteller, der als Schuhputzer die paar Franken für sein Baguette und die hartgekochten Eier verdient, die ihm seine kranke Frau dann in einem liebevoll eingerichteten Holzschuppen am Hafenrand auftischt. André Wilms hat eine fast identische Rolle in „Das Leben der Boheme“ gespielt und Kati Outinen war schon lange vor „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ die Lieblingsheilige des finnischen Regisseurs. Wie die Schöne in dem poetischen Klassikers „Die Kinder des Olymp“ heißt sie Arletty und sein Name erinnert natürlich an Marcel Carné, der 1938 in Le Havre „Hafen im Neben“ gedreht hat. Mit Sarkasmus werden die ärmlichen Verhältnisse des schönen Paares ausgemalt - perfekt wird das Bild durch eine Mischlingshündin namens Laika und die ruppige Behandlung durch den örtlichen Kaufmann, der schnell die Jalousien herunterlässt, bevor Marcel wieder einmal um Kredit bitten kann.
Doch dann geschieht etwas im Kaurismäki-Kosmos bisher noch nie Gesehenes: Realität bricht in seine so sorgfältig stilisierte Kunstwelt ein. In einem Container sind im Hafen von Le Havre Flüchtlinge aus Afrika eingeschmuggelt worden. Der minderjährige Idrissa kann fliehen, und diese Sequenzen hat der Regisseur zwar auch mit der für ihn typischen Lakonie inszeniert, aber Idrissa und die anderen Flüchtlinge sind keine Kaurismäki-Figuren, sondern naturalistisch in Szene gesetzte Menschen aus Afrika. Nicht nur durch diesen Bruch wird klar, dass Kaurismäki hier ernsthaft von den Missständen an Europas Grenzen erzählen will, und dies auch, indem er deutlich macht, dass diese aus einer ganz anderen Welt als der seiner Imagination kommen.
Dies bedeutet allerdings nicht, dass der Film sich plötzlich in ein naturalistisches Sozialdrama verwandelt. Wenn Marcel dem illegalen Flüchtling Idrissa hilft, zuerst eine Tüte mit Essen (natürlich wieder Brot mit Ei) zu seinem Versteck bringt und ihn dann bald in seiner kleinen Hütte vor der Polizei versteckt, dann läuft das Kaurismäki-Personal zu Hochform auf. Im Stil eines poetischen Märchens helfen alles solidarisch mit, den Jungen vor der Polizei zu schützten und sie sammeln sogar Geld, damit er zu seiner Familie nach London weiterreisen kann. Auf einem Solidaritätskonzert bekommt ein kleiner französischer Rock¥n Roll Sänger namens „Little Bob“ seinen großen Auftritt. Und Kaurismäki, der sonst alles so weit wie möglich reduziert, lässt ihn aus Freude an dem wilden Auftritt ein ganzes Lied singen.
Sogar dem strengen aber gerechte Kommissar sind die herzlos agierenden Büttel der Staatsmacht zuwider, und so weist er den Denunzianten der Straße in einer der vielen märchenhaft schönen Szenen des Films deutlich in seine Schranken. Der wird nun als die einzige gänzlich unsympathische Figur des Films von Jeanne-Pierre Léaud gespielt, dem einstigen Kind der Nouvelle Vague. Die scheint Kaurismäki nicht so zu mögen wie die Klassiker des poetischen französischen Kinos.