: Bedingt abwehrbereit
Die Abschaffung der Wehrpflicht ist in historischer Perspektive überfällig. Denn schon das Römische Reich hat gezeigt, dass eine Wehrpflichtarmee mit großen imperialen Ordnungen nicht harmoniert
VON RALPH BOLLMANN
Noch sträubt sich die Union, aber eine Abschaffung der Wehrpflicht wird auch in Deutschland kommen – über kurz oder lang. Um diese Prognose zu wagen, bedarf es keiner hellseherischen Fähigkeit, sondern nur eines Blicks auf die Nachbarländer. Frankreich hat die Wehrpflicht bereits 2001 abgeschafft, Polen will diesen Schritt bis 2011 vollziehen. In den angelsächsischen Ländern ist die Zwangsrekrutierung der Untertanen ohnehin unbekannt. Die Briten haben nur während der beiden Weltkriege ihre männlichen Staatsbürger zum Militär eingezogen, und in den USA muss seit 1973 niemand mehr unfreiwillig zur Armee.
Dass die Wehrpflicht in einer hochkomplexen und eng vernetzten Gesellschaftsordnung zum Auslaufmodell wird, ist in historischer Perspektive keine neue Erfahrung. So kurios es auf den ersten Blick erscheinen mag: Großräumige imperiale Ordnungen vertragen sich schlecht mit der Wehrpflichtarmee, die in den Stadtstaaten der Antike geboren wurde und nach der Französischen Revolution in den Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts eine Renaissance erlebte.
Der Aufstieg Roms, einer Kleinstadt am unteren Tiber, wäre ohne die Wehrpflicht zunächst gar nicht denkbar gewesen. Doch erwies sich spätestens im ersten Jahrhundert vor Christus, dass dieses System für das entwickelte Imperium nicht mehr taugte. Schon damals spielte das ökonomische Argument eine gewichtige Rolle. Wie heute der volkswirtschaftliche Schaden der Wehrpflicht durch keinerlei Nutzen bei weltweiten Einsätzen gerechtfertigt scheint, so zerrüttete die oft jahrelange Abwesenheit der römischen Rekruten die gesamte Landwirtschaft des Imperiums.
Eine existenzielle Bedrohung als Rechtfertigung der Wehrpflicht war mit dem Untergang Karthagos in ähnlicher Weise entfallen wie in der Jetztzeit nach dem Ende der Sowjetunion. Schließlich haben antike wie moderne Globalisierung gleichermaßen den Aspekt einer Verteidigung der heimischen Scholle, sei es nun am Tiber oder am Rhein, stark in den Hintergrund treten lassen.
An die Stelle des Staatsbürgers unterm Legionärshelm trat in der römischen Kaiserzeit dann der Berufssoldat, meist aus bildungsfernen Schichten oder mit Migrationshintergrund, der gegen Geld an den fernen Grenzen des Imperiums seinen Dienst tat. Auch bei den antiken Einsätzen „out of area“ ging es um den meist vergeblichen Versuch, die instabilen Randzonen der globalisierten Welt zu befrieden. Nicht deren abschreckende militärische Stärke war das Problem, sondern ganz im Gegenteil das Fehlen stabiler gesellschaftlicher oder politischer Strukturen.
Ob man solche „failing states“ besser mit militärischen Mitteln befrieden konnte oder lieber mit friedlicher Entwicklungshilfe, in der Antike „Subsidien“ genannt – diese Frage wurde damals so unterschiedlich beantwortet wie heute. Fest stand aber in beiden Fällen: Wehrpflichtige jedenfalls sind für derartige Herausforderungen vollkommen ungeeignet. Truppenkontingente, die in den entlegensten Regionen Germaniens stationiert waren und mit den dortigen Gegebenheiten vertraut sein mussten, ließen sich auf diese Weise ebenso wenig rekrutieren wie heute Spezialtruppen für Einsätze im Kosovo oder in Afghanistan.
Dekadenztheoretiker haben im Nachhinein einen entscheidenden Grund für den Untergang Roms gerade darin gesehen, dass die Bewohner in den saturierten Kernzonen des Imperiums nicht mehr selbst zu den Waffen griffen, sondern diese unangenehme Aufgabe an bezahlte Spezialkräfte oft ausländischer Herkunft delegierten. Das Argument schwingt auch in den heutigen Debatten über die Wehrpflicht stets im Untergrund mit: Wenn die Armee nicht mehr den Querschnitt der Bevölkerung repräsentiert, werden uns dann rechtsradikale Unterschichtsangehörige oder illoyale Einwanderer eines Tages mit der Waffe in der Hand überrennen?
Schon die Kombination der Vokabeln „rechtsradikal“ und „Einwanderer“ zeigt, wie anachronistisch diese Furcht ist. Klassische Wehrpflichtarmeen haben immer auf einer Ideologie der Abschottung beruht – sei es in den antiken Stadtstaaten, sei es in den Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet die kleine, sich jeder Integration in internationale Organisationen verweigernde Schweiz besonders hartnäckig an der Wehrpflicht festhält. Der Internationalität und Weltläufigkeit einer hochgradig arbeitsteiligen, eng verflochtenenen Ordnung entspricht das Modell der Berufsarmee weitaus besser, das übrigens auch die international verflochtenen Dynastien des europäischen Absolutismus praktiziert haben.