: berliner szenen Keine Ruhe
Angriff auf Neukölln
Neukölln ist, auch wenn das nicht jeder Stadtzeitungsautor weiß, schon lange nicht mehr krass. Die Dealer finden ihre Kundschaft offensichtlich nicht mehr unter den Studentenmädchen und hornbebrillten Poststrukturalisten in den Neukölln Arcaden. Vielleicht bezahlt ja der Tourismusbeauftragte die Dealer dafür, dass sie scheel herumblicken. Neukölln nämlich, zumindest Nord-Neukölln, lebt gerade gut von seinem schlechten Ruf, die Mieten steigen, die In-Kneipen schießen aus dem Boden, man kann jetzt sogar lesbare Zeitungen kaufen.
Doch in manchen Ecken ist alles noch so wie früher. Etwa in der Donaustraße, die gemächlich zwischen Sonnenallee und Karl-Marx-Straße verläuft, hier passiert nichts Aufregendes. Hier ist Neukölln noch Westberlin, ist Schultheiss ein gutes Bier, ist „Hamwer nich!“ noch ein freundliches Wort aus Bäckersmund.
Allerdings hat die Stadtverwaltung offensichtlich beschlossen, auch diese Idylle zerstören zu wollen. Die Ampel, die an der Ecke Fuldastraße/Donaustraße einen Verkehr regeln soll, der nie so richtig sichtbar wird, ist seit einiger Zeit mit Ampelmännchenglasscheiben ausgestattet. In frischem grellem Rot und ätzendem grellem Grün leuchten nun die Männchen, die einst das Niedliche in Ulbrichts Mauerstaat sein sollten, und später sinnbildlich für das Geschichtsvergessene der Neuen Mitte wurden. Sie machen mit allerhellstem Licht in Neukölln auf sich aufmerksam. „Du hast keine Ruhe, Alt-Westberliner Kiez“, sagen sie, „wir kriegen dich auch noch.“
„Ist das nicht eklig“, sage ich zu P., der um die Ecke wohnt und zeige auf die Ampeln. „Nö“, sagt der, für mich ist das nur wie Strobo in Zeitlupe.“ Aber P. kifft, dem sollte man keinen Glauben schenken … JÖRG SUNDERMEIER