„Das hat mit Spirit wenig zu tun“

Der Reggae-Sänger Gentleman über deutsche Hektik, germaikanische Musik und den Kampf gegen Pornorap

Tilmann Otto, wie Gentleman mit bürgerlichem Namen heißt, wurde 1975 in Osnabrück geboren und wuchs im Kölner Süden auf. Seit er als 17-Jähriger erstmals nach Jamaika reiste, lässt ihn der Reggae nicht mehr los. Heute ist er selbst ein Reggae-Star, dessen Alben („Journey to Jah“, „Confidence“) sich weltweit verkaufen. Gentleman ist auch auf Jamaika als Reggae-Musiker anerkannt – eine große Ehre für einen Europäer. Sein neues Album „Another Intensity“ erscheint am 24. August.

INTERVIEW MICHAEL AUST
UND CHRISTIAN BOS

taz: Gentleman, Ihr neues Album erscheint in 16 Ländern, Sie sind um die ganze Welt getourt. Kommt Ihnen Ihre Kölner Heimat da nicht klein und provinziell vor?

Gentleman: Köln ist mein Ruhepol. Wenn ich zurückkomme und über diese Wahnsinnsbrücke fahre, bin ich zuhus! Ich werde auch nie hier weggehen. Köln hat eben diese Mischung: Ich hab das Gefühl, zugleich in einer Weltstadt und in einem Dorf zu sein.

Wie häufig im Jahr sind Sie noch in Köln?

Super unregelmäßig. Ich war jetzt neun Monate in Jamaika, habe produziert. Jetzt werde ich das Album präsentieren und Live-Shows spielen, da bin ich häufiger in Deutschland. In den nächsten Monaten ist der Tourbus mein Zuhause.

Mal grundsätzlich: Wie würden Sie einem Unkundigen erklären, was Roots-Reggae ist?

Roots-Reggae ist traditionelle, progressive Musik. Helmut Zerlett hat mir erzählt, dass es im Mittelalter im Rheinland eine Musik gab, die „Zwiefach“ hieß. Da waren die Chords auf der Zwei – genau wie im Reggae. Da soll mal einer sagen, wie kommt denn der kölsche Jung zum Reggae? Das war schon im Mittelalter die Musik im Rheinland!

Sie machen also progressive, rheinländische Musik?

Germaikanische.

Wieso überhaupt Jamaika – woher die Liebe zur Insel?

Ich bin da das erste Mal aus Interesse an der Musik hingeflogen, gepaart mit einer Abenteuerlust. Ich hatte ja auch nie den Plan, Reggaesänger zu werden. Ich würde jedem Jugendlichen raten: Guckt euch andere Kulturen an, fahrt mal irgendwo woanders hin, macht nen Horizont auf, so gewinnt ihr einen ganz anderen Blick – auf euch selbst, auf eure Konditionierung und auf unsere Gesellschaft. Da relativiert sich viel.

Sie waren 17, als Sie das erste Mal nach Jamaika geflogen sind. Ihre Eltern waren sicher nicht begeistert?

Meine Mum hat natürlich Schiss gehabt und gesagt: Nee, auf gar keinen Fall. Mein Dad hat gesagt: Zisch los, hab ein Abenteuer, es tut dir gut. Es gab diesen Kumpel von mir und es gab die Adresse von einer Farmersfamilie, also es war relativ safe. Aber ich weiß nicht: Wenn mein Sohn 17 wäre … Jamaika ist echt anders geworden. Es ist nicht mehr das Sunshine-Land.

Ist die soziale Situation schlimmer geworden?

Auf jeden Fall. Die Waffenpräsenz, die niedrige Hemmschwelle der Gewalt, die Korruption in der Politik. Die Leute sind frustriert, die Ghettos werden immer größer. In Kingston werden mehr Leute in einer Nacht erschossen als in L.A. und New York zusammen. Erst vor drei Wochen stand ich an einer Ecke, habe zwei Bier gekauft, da fuhr ein Typ im Auto vorbei, schoss – und zwei Leute waren tot. Doch trotz der ganzen Gewalt, die da abgeht, ist gleichzeitig so eine Liebe da, so ein Miteinander. Und eine Kreativität, die ich an keinem anderen Ort auf der Welt je gefunden habe. Das macht dich wahnsinnig: Montags denkst du: Habt ihr sie nicht alle? Und dienstags: Was für eine beispielhafte Gesellschaft!

Wenn Sie dann nach Deutschland zurückkommen – wie finden Sie die Gesellschaft hier?

Gut. Bei der ganzen Scheiße, die abgeht – mit Hartz IV und tausend Kritikpunkten –, ist unterm Strich noch immer alles im Lot. Ich frage mich, was wir zu meckern haben. Uns geht’s echt gut hier. Das große Manko ist hier eher der tiefere Dialog. Diese Schnelligkeit, diese Hektik und Competition. Das hat mit Spirit relativ wenig zu tun.

Sie sind in einem evangelischen Pfarrhaus aufgewachsen, haben bei jamaikanischen Familien gelebt. Gibt es dort einen anderen Zugang zur Spiritualität als hier?

In Jamaika sind auch 86 Prozent der Bevölkerung offiziell Protestanten. Aber die Rasta-Bewegung wird immer stärker. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass in Ländern, in denen die Leute gucken müssen, wie sie ihr Essen auf den Tisch kriegen, sie eine ganz andere Nähe zu Gott haben, zum Spirit, auch zu sich selbst. Wenn ich mich in Berlin in einem Café umgucke, sitzen dort von 30 Leuten 27 mit Laptop. Wenn ich jemanden frage: „Wollen wir nicht mal einen Tee trinken?“ sagt der: Connecte mich doch auf MySpace. Dieses Poesiealbum für Erwachsene. Dieses ganze Web-2.0-Ding, das sehe ich echt kritisch. Wenn man die Leute, die im System denken, sie sind okay, einmal fünf Stunden alleine irgendwo hinsetzt, dann fangen die Probleme an.

Ihr sechsjähriger Sohn, sagten Sie einmal, sei näher an der Wahrheit als die meisten Erwachsenen …

Mit welcher Intensität der sich anguckt, wie eine Taube vom Dach kackt, wie sich ein Blatt bewegt. Da ist der stundenlang drin und leuchtet und strahlt. Jetzt kommt er in die Schule und dann wird das weniger. Dann wird er eingeengt. Aber wenn ich mit ihm zusammen bin und wir bauen unsere Hütten im Wald … das ist der Hammer, mehr brauche ich nicht.

Sie singen viel von „Jah“. Meinen Sie damit dasselbe wie Christen, wenn sie Gott sagen?

Ich bin kein Christ. Ich glaube, Jesus war ein erleuchteter Mann, von dem man viel lernen kann. Aber wenn ich mir die Geschichte des Christentums anschaue und die der Kirche – alter Schwede, was ging denn mit denen ab? Ich glaube an das Gute im Menschen, daran, dass wir alle miteinander verbunden sind und auf einem Weg sind zu einem „higher“ Ding. Aber ich suche noch.

Gibt es oft Diskussionen über den Glauben im Elternhaus – Ihr Vater ist ja Pfarrer?

Immer wieder, klar. Was ich an ihm schätze, sind seine Predigten, weil die extrem weltoffen und tolerant sind. Auch sein Religionsunterricht – ich hatte ihn damals am Hansa-Gymnasium als Lehrer – war echt cool, weil er Buddhismus und Islam genauso wie Christentum behandelt hat. Wir kommen da auch an unsere Grenzen. Es ist schwer für ihn, dass ich die Kirche nicht unterstütze und dort nicht hingehe, weil das einfach nicht der Ort ist, wo ich Gott spüren kann.

Glauben Sie, dass Musik das System verändern kann?

Die Musik ist immer der Gegensatz zum System gewesen. Hat immer rebelliert und hat vor allem die Leute nicht alleingelassen in der Realität. Ich spüre auch eine große Verantwortung. Gerade weil in meinem Publikum viele junge Leute sind, sollen meine Lyrics ein Gegensatz zu dem sein, was im deutschen Hiphop sonst gerade abgeht. Wenn es nur noch um Provokation geht, wenn Frauen in Songtexten vergewaltigt werden und die Leute, die das geschrieben haben, von den Medien auch noch gehyped werden. Dann frag ich mich, was ist das für eine Doppelmoral? Gleichzeitig werden Künstler aus Jamaika ausgeladen, weil sie vor zehn Jahren mal schwulenfeindliche Texte gesungen haben.

Sie haben jetzt einen Song mit Sizzla aufgenommen, der jahrelang wegen seiner schwulenfeindlichen Texte nicht in Europa auftreten konnte. Was sagt Ihre Verantwortung dazu?

Diese Schwulenfeindlichkeit stört mich extrem. In meinen Texten werden keine Minderheiten gedisst, sondern unterstützt. Deshalb habe ich schon überlegt, ob ich mit Sizzla einen Song machen kann. Aber ich bin Fan seiner Musik, ich finde, das ist seit Bob Marley der Typ mit der meisten Intuition. Außerdem hätte ich sonst in Jamaika mit keinem Menschen arbeiten können. Homophobie ist in der jamaikanischen Gesellschaft tief verankert. Aber dieses Minderheiten-Gedisse, das ist Dancehall-Musik. Mit Reggae hat das nichts zu tun. Roots-Reggae ist Bob Marley, ist Peter Tosh, ist Gentleman.