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Archiv-Artikel

Kraftwerk Maultaschen

PIONIER Vladimir Egozov betreibt am Ostbahnhof einen Pelmeni-Imbiss, an dem sich einmal im Jahr die Berliner Musikwirtschaft trifft. Schließlich kennt sich Egozov mit visionären Sounds aus: Noch in der Sowjetunion war er der Erfinder einer ruhmreichen Elektroorgel

VON GUNNAR LEUE

Die Berlin Music Week war einmal. Stattdessen gibt es in diesem Jahr Ende August das Festival Pop-Kultur, und zwar im Berghain und nicht mehr wie die Music Week im Postbahnhof. Die Strecke von hier nach da ist ein Katzensprung, konzeptionell aber werden wohl Welten zwischen den Branchentreffs liegen. Traditionelle Wie-geht’s-der-Musikindustrie-Plaudereien im Panelformat werden entfallen, dafür darf man auf eine verstärkte Besinnung auf die Musik als solche hoffen. Party ja, Larifari-Businesstalk eher nö.

Kann sein, dass der Wind of Change in Popberlin dann auch die „Pelmeniwelt“ trifft. Unter diesem Namen kennt man den Lakomka-Imbiss (Lakomka wie Naschkatze) gleich hinterm Ostbahnhof auf dem Niemandsland der modernen Shoppingkultur, zwischen dem „Ostgrill I (Herz) Curry-Wurst“, einem Asia-Imbiss und windgegerbten Textilständen. Wäre das Ensemble hier eine Band, dann vielleicht eine Motörhead-Coverband mit Kneipenfestanstellung.

Die „Pelmeniwelt“ existiert seit zehn Jahren in einem lustig anzuschauenden Kiosk, samt Anbau mit dauerhaftem Provisoriumsappeal. Offenbar ist es genau das, was die Leute des Hamburger Audiolith-Labels – der Heimat von Bands wie Frittenbude, Egotronic und den Verfassungsschutzlieblingen Feine Sahne Fischfilet – bewog, hier in diesem Imbiss ihren Labelempfang bei den vergangenen Music Weeks zu veranstalten. Für den Betreiber Vladimir Egozov haben sie sich laut Audiolith-Gründer Lars Lewerenz entschieden, „um das Geld mal den Richtigen zu geben“. Außerdem sei die „Pelmeniwelt“ keine Location, sondern eine schöne Imbissbude, die gut zum Abhängen tauge und hervorragend zum Label passe.

Ob die Audiolith-Sause, die schnell zur ruhmreichsten der Music Week avancierte, ins neue Pop-Kultur-Festivalformat passt oder überhaupt passen will, wird man sehen. Fiele sie künftig aus, wäre es nicht nur für die Freunde und Musiker des Indielabels schade, sondern vor allem für Vladimir Egozov. Schließlich bescherte ihm die Party stets den Umsatzrekord des Jahres. Für diesen einen Tag gehörte die „Pelmeniwelt“ in gewisser Hinsicht zur Musikwirtschaft, obwohl Egozov bis heute nicht so genau weiß, warum ausgerechnet bei ihm sich die Musikfreunde trafen, um seine Bestände wegzusaufen und abzuhängen.

Ein Visionär der Musik

Während wir das bei der letzten Berlin Music Week vergangenen September taten, erzählte Lars Lewerenz noch, dass Vladimir Egozov ja irgendwie auch aus dem Musikbusiness sei, da er wohl früher mal einen sowjetischen Synthesizer gebaut hätte.

Als neulich die am Dienstag startenden Konzerte von Kraftwerk in der Neuen Nationalgalerie verkündet wurden und dabei deren Bedeutung als Visionäre der elektronischen Musik zur Sprache kam, fiel mir dieser Hinweis wieder ein. Also, noch mal hin zum Ostbahnhof und nachgefragt bei Vladimir Egozov, ob er wirklich ein Synthesizerpionier der Sowjetunion gewesen sei? „Ja, stimmt, ich habe eine Elektroorgel gebaut“, bestätigt der kleine alte Mann mit der Schiebermütze. Wie er, 79-jährig, so durchs Fenster seines Imbisshäuschens guckt, sieht er tatsächlich aus wie ein russisches Onkelchen. „Orgel hieß ,Perle 2‘, wir haben sie sogar nach England geschickt. 400 Stück. Unser Konkurrent war damals Hammond“, erzählt er in einem etwas verruckelten Deutsch. Der Imbissbetreiber ist also gar kein gelernter Koch? „Nein“, sagt er. „Ich habe Elektroingenieur studiert in Moskau und dann in Riga in einer Fabrik für Musikapparate gearbeitet. Als Hauptleiter Konstruktion.“ Auch SAT-Anlagen und Receiver hätten sie dort gebaut und bis nach Iran und Libyen exportiert.

Für seine „Perle 2“ habe er ein Patent bekommen und auch eine hohe sowjetische Auszeichnung. Richtig berühmt sei er damals gewesen, und eine „Perle 2“ hätte im Pavillon der Allunionsausstellung in Moskau gestanden. „Sie war gut für Klassik und moderne Musik und wurde in der Sowjetunion viel auf Hochzeitsfeiern gespielt“, sagt er und erzählt noch nebenbei, dass er auch Lew Termen persönlich kannte. Der Mann, der Anfang der zwanziger Jahre das Theremin erfand, das legendäre Elektroinstrument, das berührungslos gespielt wird? „Ja, genau. Wir waren bei einer Konferenz und haben uns in unserem Hotel lange unterhalten.“

Seine Vergangenheit als E-Orgelkonstrukteur hat Vladimir Egozov in seiner Heimat zurückgelassen, als er 1991 nach Berlin kam. Als jüdischer Kontingentflüchtling den unsicheren Verhältnissen in Riga entflohen, schlug er sich auf verschiedene Weise in Berlin und Brandenburg durch. Als Jobber in einer Spielhalle, als Fernsehtechniker, als Autowäscher in einer Tankstelle. Nachdem er die, wie er sagt, „schöne Weißarbeit“ (also keine Schwarzarbeit) dort verlor, konnte er seine Frau aus Riga wieder nicht nachholen. Stattdessen jobbte er als Hausmeister, bis er 2003 endlich die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt und sich selbständig machen konnte.

Seit 2004 macht er nun in Pelmeni, wie die russische Variante der Maultaschen heißt. Warum gerade Pelmeni? „Deutsche können keine Pelmeni, und ich weiß, wie man sie kocht. Pelmeni ist mein Leben“, erklärt Egozov und gibt einen kleinen Abriss der Pelmenigeschichte. Eigentlich kämen die gar nicht aus Russland, sondern wurden vor 2.000 Jahren in China erfunden. Dort heißen die Teigtaschen Wan Tan, in Polen heißen sie Piroggen, in Italien Tortellini, in Usbekistan Manti und in Kasachstan Biljaschi, allerdings wird das Hackfleisch bei denen in Hefeteig gebacken.

Kulinarisch sowjetisch

Egozov, der gebürtige Kasache, ist als Imbissbetreiber ein Anhänger der alten Sowjetunion. Borschtsch, Soljanka, Syrniki – auf seiner Speisekarte sind die kulinarischen Regionen der einstigen UdSSR vereint. Sein Hauptgericht sind natürlich Pelmeni, die er ein bisschen ins Berlinerische verwurstet hat. Die Teigtaschen, angereichert mit Kräutern und saurer Sahne, füllt er mit Lamm, Schwein, Rind und Gans.

Gänsefleisch ist in Russland unüblich. Eine kleine Innovation, nichts im Vergleich zu einer anderen Idee von Egozov. Nach dem Abzug der Sowjetarmee aus Wünsdorf wollte er dort einen Freizeitpark errichten, eine Mini-Sowjetunion auf 20 Quadratkilometern, umgeben von einer roten Mauer. In seinem Sowjetreich sollten alle Ex-Unionsrepubliken, von Lettland bis zur Ukraine, mit Nationalrestaurants präsent sein. Gescheitert sei der Plan letztlich daran, dass er mit dem damaligen Ministerpräsidenten Platzeck nicht richtig ins Gespräch kam.

Dafür hat er mal Markus Wolf getroffen. Der Ex-Stasiagentenchef hatte vor seinem Tod noch ein Buch mit russischer Küche veröffentlicht. „Markus Wolf fand meine Idee mit dem Freizeitpark gut, otschen charascho, sehr gut“, sagt Egozov, der inzwischen eine neue Idee hat: ein Mini-Deutschland in Moskau, neben dem Flughafen Domodedowo.

Wie ernst man das allerdings nehmen darf, ist schwer zu sagen, nicht nur, weil der sympathische Imbissbetreiber bald 80 wird, sondern auch ausgesprochen bodenständig wirkt. „Mit meiner Pelmeniwelt“, sagt er, „bin ich zufrieden.“ Jeden Tag kommt er aus seinem heimischen Wilmersdorf an den Ostbahnhof und beköstigt von zehn bis abends um acht seine Kunden. Manche sind Stammkunden, so wie der Herr aus Düsseldorf, der einmal im Monat nach Berlin muss und nach seiner Zugankunft stets eine Soljanka hier isst. In seinem Imbissanbau steht ein kleiner Fernseher, in dem mal russisches, mal ukrainisches Fernsehen läuft. Die SAT-Anlage hat er selbst gebaut, „war kein Problem“.

Zwei Jahre will er seine „Pelmeniwelt“, in der eine Bekannte aus Lettland ab und zu mitarbeitet, noch betreiben. Über die Zeit danach macht sich Vladimir Egozov noch keine Gedanken. Und auch nicht darüber, ob die eigentlich beim Pop-Kultur-Festival fällige Audiolith-Party 2015 wieder stattfinden wird. Gelassen sagt er nur: „Man wird sehen.“