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Archiv-Artikel

Schluss mit Bürgerboheme

NEW YORK II Die soziologische Basis der New Yorker Moderne hat nach 9/11 die Stadt verlassen, das glaubt der frühere Programmdirektor des dortigen Goethe-Instituts, Stephan Wackwitz

VON STEPHAN WACKWITZ

Möglicherweise – habe ich während meiner amerikanischen Jahre manchmal gedacht – sind die Massenmörder von al-Qaida die letzten gewesen, die New York als Hauptstadt des 20. Jahrhunderts genommen haben, blutig ernst. Ihr Angriff vor zehn Jahren zielte auf die Moderne. Sie wollten das Jahrhundert treffen, in dem sich die Lebensform des Westens durchgesetzt hat – während dessen erster Hälfte in Paris, nach 1945 dann eben in New York. Indem die bösen Männer aus Hamburg und ihre Hintermänner in Afghanistan jene 3.000 Unbeteiligten umbrachten, die an einem dieser überirdisch strahlenden neuenglischen Früherbstvormittage nichtsahnend ihrem Beruf nachgingen, glaubten sie das moderne Syndrom von Liberalism, Selbstbestimmung des Privatlebens, ungegenständlicher Kunst, religiöser Indifferenz und freier Presse zu treffen, das ihnen offenbar als unerträgliche und nicht zu übersehende Zornespuschel ins Gesicht hängt, sooft sie die Welt betrachten.

Denn die heroischen, lustigen, poetischen und heute noch inspirierenden Erinnerungen an die „große Befreiung“ der Moderne kann man in New York ja heute noch auf Schritt und Tritt besichtigen und sich erwandern. In Harlem und in Greenwich Village, im Central Park und auf der Fifth Avenue, vor Picassos „Demoiselles d’Avignon“ im MoMA und vor Jackson Pollocks „Autumn Rhythm“ im Metropolitan Museum. Unser aller inneres Leben hat in diesen Straßen, Parks und Museen seinen Anfang genommen.

„New York, wo er wirklich lebte“, heißt es bei John Updike irgendwo über einen Helden, der in Wirklichkeit irgendwo in New England sein Wesen treibt, „wie Heilige eigentlich im Himmel wohnen und dort ihre Verdienste anhäufen“. Nimmt man dazu das überirdische Licht der Stadt, die dramatischen Wetterwechsel, die unerschütterliche Freundlichkeit und den multikulturell inspirierten Witz ihrer Bewohner („Zugewandtheit als öffentliche Tugend“), dann kann man die Millionen von Touristen schon verstehen, die New York zu jeder Jahreszeit schwärmerischen Blickes bevölkern.

Romantische Sehnsucht

Aber hier liegt ein Paradox. Die heroische Rührung, die romantische Sehnsucht, die uns Moderne aller Länder im Eingedenken an genau die Stadt überfällt, die den Tätern von 9/11 ihre islamistische Zornespuschel vor Augen führt, lässt uns die eigentümliche Musealität unserer inneren New-York-Wallungen übersehen. Denn es sind ja Erinnerungen (dazu solche an nicht selbst Erlebtes), nämlich kollektive Bildungserlebnisse, die uns in New York überwältigen. Und meistens überwältigen sie uns ja (mich jedenfalls) buchstäblich in Museen, vor Kunstwerken, zu denen in diesem Fall eben auch das Chrysler-Building und der Central Park zu zählen wären. Unser New-York-Erlebnis hat eine Werther-Struktur, eine vorab eingebaute Literazität. Die Skyline von Midtown ist unser „Tropfen am Eimer“, jenes Gedicht von Klopstock, in dessen Erwähnung sich Werthers und Lottes Seelen zu vereinigen vermeinen, während sich in Wirklichkeit ihre Lektüreerinnerungen verlöten.

Woody Allen, der die Stadt seit den siebziger Jahren zu seinem künstlerischen Lebensthema gemacht hat, verlegt neuerdings die Boheme (das ultimative moderne Avantgardemilieu), die er in den achtziger Jahren noch einleuchtend und wiedererkennbar auf der Upper West Side lokalisieren und beschreiben konnte, in „Vicky Christina Barcelona“ (2008) beispielsweise nach Spanien, in ein gut erfundenes Milieu abstrakt-expressionistischer katalanischer Künstlertypen. Und in „Midnight in Paris“ (2011) muss er gar eine Zeitreise unternehmen, um den modernen Figuren wiederzubegegnen, die ihn nun einmal interessieren – in den amerikanischen Pariser Expats der zwanziger Jahre. Während in diesen späteren Filmen Woody Allens die New Yorker der Gegenwart keine liebenswerten Stadtneurotiker mehr sind, sondern engstirnige Spießer, die in New York allenfalls Zweitwohnsitze unterhalten und eigentlich besser nach Dallas passen.

Das liegt nicht daran, dass Woody Allen seine modernistische New Yorker Bürgerboheme als Lebensthema langweilig geworden wäre. Er bearbeitet sie ja nach wie vor, wenn auch jetzt in exotischen oder historischen Entfernungen. Der Wechsel in Woody Allens Personal ist vielmehr darauf zurückzuführen, dass er sein Milieu in New York nicht mehr glaubhaft lokalisieren und schildern kann. Die klassischen Stadtteile der New Yorker Moderne – jene Streifen östlich und westlich des Central Parks und die Gegenden links und rechts des Washington Square – sind seit 9/11 und im Gefolge der polizeilichen Befriedung des Stadtgebiets durch die Giuliani-Administration zu den weltweit teuersten und begehrtesten Immobilien geworden. Für die aufgeklärt-originellen Bürger und die durchgeknallt-verführerischen Künstlerinnen, die Woody Allens Personal im letzten Jahrhundert gestellt haben, gibt es dort keinen bezahlbaren Platz mehr. Die soziologische Basis der New Yorker Moderne hat die Stadt verlassen.

Und ihre wichtigste Errungenschaft aus den achtziger Jahren? Jene Freiheit des eigenen Lebens? Die „Hannah und ihre Schwestern“-Utopie? Es gibt im New York dieser Jahre tatsächlich eine Gruppe von Menschen und Künstlerinnen, die sich ihre Freiheit erobert hat und sie künstlerisch-lebensweltlich genießt. Es sind die Erben der Genderrevolution der achtziger Jahre, die Nachkommen Warhols, des radikalen Feminismus, der militanten Schwulenbewegung. Man darf in New York heute offen schwul sein. Man darf als Transvestit auf der Straße herumlaufen. Frauen dürfen sich benehmen, wie ihnen zumute ist. Was ein ungeheurer und kostbarer zivilisatorischer und politischer Fortschritt ist und unbedingt verteidigt werden muss.

Aber es verdeckt, welche Rückschritte die Fortschritte der Genderbefreiung an anderen Fronten mit sich gebracht haben. Strenger Beobachtung beispielsweise untersteht spätestens seit Beginn des Jahrhundert etwas so vergleichsweise Harmloses wie die männliche Heterosexualität an und für sich. Pascal Bruckner hat zu dieser neuesten Stimmung im Westen in Le Monde neulich das Treffende und Wahre gesagt.

Korrekt und harmlos

Gesellschaftlich so gut wie geächtet ist Alkoholgenuss jenseits des ersten und einzigen jener fingerhutgroßen Weingläschen, die in New Yorker Restaurants zwischen 10 und 15 US-Dollar kosten. Das Problem des Zigarettenrauchen brauche ich nicht zu erwähnen. Die allgegenwärtigen Kampagnen und Warnungen vor der Fettleibigkeit könnten Pessimisten nahelegen, dass demnächst das Essen verboten wird. Und nicht nur jeder öffentliche Sprechakt, sondern auch private Beiträge zur Alltagskonversion sind lückenlos umgeben von einem Horizont angezeigter Nomenklaturen, Erwähnungsverbote und Korrektheitsvorschriften. Eine frei flottierende Vorsicht ist das Tempo der Reden in der einst so lauten und frechen Hauptstadt der Moderne.

Und die Kunst? Das letzte halbe Jahrhundert war sie das eigentliche Spielfeld der Moderne und der Ruhm ihrer Hauptstadt. Seit der Durchsetzung des Abstrakten Expressionismus als der allgemeingültigen Weltkunst in den fünfziger Jahren ist eine Innovation nach der anderen von New York ausgegangen, ein Strom der Innovation, der Revolution und Inspiration. Auch das scheint nicht mehr so. Nach 9/11 ist New York zwar weiterhin und vielleicht mehr denn je ein Schaufenster der Weltkultur. Zehntausende der intelligentesten, durchsetzungsfähigsten, attraktivsten jungen Weltbewohner kommen jedes Jahr von überall hierher, um ihr Glück zu machen. Aber man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie nach New York eher mitbringen, was woanders entstanden ist, als dass sie herkommen, weil nur hier etwas Neues entstehen könnte. Die Stadt reproduziert und repräsentiert die moderne Weltkunst heute, statt sie noch zu produzieren, wie es so viele Jahrzehnte lang der Fall war.

Und ich hatte, je mehr ich in den letzten vier Jahren in New York mit zeitgenössischer bildender Kunst befasst gewesen bin, sogar den Eindruck, dass jene frei flottierende Konventionalität, von der schon die Rede war, das eigentlich Künstlerische an der Kunst bedroht: ihren Abstand vom Alltag, von der Korrektheit, von der Politik. Dieser Abstand ist der anstößige und irrationale Restbestand, der dem Künstlerischen aus seinen sakralen und gewalttätigen Ursprüngen geblieben ist. Und wie einstmals tabuisierte erotische Lebensformen neuerdings in die Konventionalität, Alltäglichkeit und Harmlosigkeit heimgeholt werden, arbeitet die in New York derzeit einflussreichste Strömung der zeitgenössischen visuellen Kunst – jene von Nicolas Bourriaud kanonisierte „esthétique relationelle“ – an der Einebnung des Unterschieds zwischen Kunst und Alltag, Kunst und Politik, Kunst und überhaupt allem und jedem. Kunstinstallationen sehen aus wie didaktische Wanderausstellungen, Performances wollen Politik sein, Videokunst ähnelt politischem Magazinfernsehen. Es ist, als seien die Erben von Jackson Pollock und Andy Warhol so verzagt, dass sie keinen Unterschied mehr gelten lassen zwischen dem Skandalösen der Kunst und der korrekten Harmlosigkeit des Lebens.

Es gibt ein Motiv unseres modernen Nachdenkens über die Moderne, das so unterschiedliche Beiträge inspiriert hat wie Heinz Schlaffers „Kurze Geschichte der deutschen Literatur“ und Jürgen Habermas’ Diskussion mit katholischen Theologen. Das ist die Intuition, dass die Moderne dort am stärksten und fruchtbarsten ist, wo sie sich an vormodernen Beständen, Verboten, Tabus, Machtverhältnissen und Ängsten abarbeiten muss. Während die vollends aufgeklärte Erde zwar nicht unbedingt im Zeichen triumphalen Unheils strahlt, wie der berühmte zweite Satz in Adornos und Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“ seinerzeit nahegelegt hat. Aber so ein bisschen hausbacken und überkorrekt kann sie halt schon rüberkommen, die vollends aufgeklärte Erde, besonders wenn sie trotz aller öffentlich demonstrierten Flamboyanz, Zuversicht und Tapferkeit unterschwellig noch so verunsichert ist und vorsichtig sein zu müssen glaubt wie die Hauptstadt der Moderne im Jahr 2011.

Stephan Wackwitz, geb. 1952, war von Sommer 2007 bis 2011 Programmdirektor des Goethe-Instituts in New York. 2010 erschien von ihm „Fifth Avenue. Spaziergänge durch das letzte Jahrhundert“ im S. Fischer Verlag