: Lehrer-Schüler-Verhältnis
Der Reportagefotograf Dirk Reinartz war nur sechs Jahre lang Hochschulprofessor. Auf welche Ideen er seine Schüler brachte, wie er sie nach Brokdorf und auf Reisen schickte, zeigt eine Schau in Berlin
VON MARCUS WOELLER
Wenn von deutschen Fotografenschulen die Rede ist, dann werden meist die Bechers zuerst genannt. Der Kieler Fotografieprofessor Dirk Reinartz hätte ähnlich schulbildend werden können, wäre er nicht vor drei Jahren ganz plötzlich gestorben. Matthias Harder, Kurator der Helmut Newton Stiftung in Berlin, und die Fotoredakteurin Christiane Gehner würdigen Reinartz’ nur sechsjähriges pädagogisches Schaffen nun mit einer intimen Ausstellung, die eine Auswahl seiner Werke im Kreis von Diplomarbeiten seiner Schüler präsentiert. Wer die große Ausstellung über Dirk Reinartz, die der Martin-Gropius-Bau im Frühjahr 2004 zeigte, nicht gesehen hat, wird jetzt kaum mehr als einen marginalen Eindruck von seiner Arbeit bekommen, lernt dafür aber eine Reihe interessanter junge Fotografen kennen.
Reinartz (1947–2004) hatte 1971 als jüngster Fotoreporter beim Stern in Hamburg angeheuert. Eine seiner bekanntesten Serien entstand jedoch während einiger Privatreisen Anfang der Siebzigerjahre in New York. Hier schoss er einige seiner eindrücklichsten key icons: den gepflegten Geschäftsmann, dessen penible Akkuratesse zwischen Banker und Mafioso changiert; das Menschengewusel auf den Straßen; den Jungen mit der Woody-Allen-Brille, der neugierig über die elegant geschwungene Hecktüre einer Limousine hervorlugt. Reinartz beherrschte die Inszenierung von Fläche und Kontur im Bild, das Spiel mit Anschnitt und Ausschnitt – natürlich alles in Schwarz-Weiß.
1980 fotografierte er in einer Hamburger Hochhaussiedlung, wo verstorbene Bewohner schon mal über Wochen unentdeckt blieben. Die Anonymität in seiner berühmten Dokumentation „Hochhaus“ prägt bis heute unseren Blick auf den einst so gefeierten sozialen Wohnungsbau. Alles Deutsche war ein Thema für Reinartz – weniger aus Patriotismus als aus einem politischen Interesse für Heimat, mit all ihren Schattenseiten. Also fotografierte er in Konzentrationslagern, dokumentierte die skurrile Einöde der Vorstädte, der Nordseeküste oder verlassener Pommesbuden und observierte den historischen Kult um den eisernen Kanzler Bismarck.
Bis Ende der Neunzigerjahre war Reinartz einer der gefragtesten Reportagefotografen, arbeitete für Geo, Merian, Art und das Zeit-Magazin. 1998 nahm er dann einen Ruf an die Kieler Muthesius-Hochschule an. Hier konnte er sein Talent als Lehrer unter Beweis stellen. Arbeiten von zwölf seiner Absolventen stehen jetzt im Gropius-Bau in einem unkommentierten Nebeneinander zu seinen eigenen Fotos. Erklärt wird nichts. Trotzdem ist zu spüren, wie ein Lehrer-Schüler-Verhältnis den Blick schärfen und die Einschätzung eigener Fähigkeiten fördern kann. Einst Student bei Otto Steinert in Essen, berüchtigt für seinen autoritären Rigorismus, ließ Reinartz seinen Schülern lieber Freiheiten – nicht ohne sie trotzdem zu lenken. Die Ausstellung hatte er noch selbst angeregt, und auf seiner Namensliste beruht auch die heutige Auswahl. In der Gegenüberstellung zeigen die Kuratoren nun, wie subtil Reinartz die Sensibilisierung seiner Schüler gelang.
„Aber nichts Versautes“, war beispielsweise seine Antwort auf Holger Stöhrmanns Vorschlag, für seine Diplomarbeit Orte zu fotografieren, an denen sich fremde Menschen zum Sex treffen: Wohnwagen an der Landstraße, Raststätten, Waldlichtungen, öffentliche Toiletten. Jedes weggeworfene Taschentuch und jede schäbige Parkbank wird jetzt also zum Indiz für Fantasien. Martin Lebioda ließ sich ganz im situationistischen Sinne treiben. In seinen Reisefotos mischt er die Orte, ohne dem Betrachter mehr als unterschwellige Tipps zu geben, was nun in Bombay und was in Kabul aufgenommen wurde. In Susanne Ludwigs Serie „Alles muss raus“ treten keine Menschen mehr auf. Sie haben ihre insolventen Firmen längst verlassen. Jetzt liegen die Büroräume und Produktionsstätten ausgeplündert und abgerockt vor ihrer Kamera, als sei eine atomare Wolke durch die Gebäude gefegt – ähnlich den Fotos, die Robert Polidori vor einigen Jahren in Tschernobyl aufnahm.
Dass die Sicherheit auch deutscher Atomkraftwerke mehr als anzuzweifeln ist, macht die Serie von Thies Rätzke noch unheimlicher. Für seinen Fotoessay „Kontrollbereich“ besuchte er das innere Sicherheitsareal des Kernkraftwerks Brokdorf. Rätzke fokussiert auf die unübersichtlichen Schaltpulte und technischen Anzeigetafeln. Er zeigt seltsame Apparaturen in grellen Farben, über deren Aufgabe man nur rätseln kann, Umkleidekabinen, Waschmaschinen und Entseuchungsstationen. Ein Arbeiter posiert in einem monströsen Schutzanzug als Flash Gordon des Atomstroms. Kaum beruhigend, dass er statt einer Laserkanone nur einen blauen Haushaltsschwamm in der Hand hält.
Die ausgestellten Reinartz-Schüler stehen alle noch am Anfang ihrer Karriere. Da die fotografischen Gattungen in den letzten Jahren aber ihre Trennschärfe erheblich verloren haben, müssen sie vielleicht gar nicht mehr grundlegend entscheiden, ob sie eher künstlerisch, dokumentarisch oder kommerziell arbeiten wollen. Wenn alles fotografiert ist und alle Bilder verfügbar sind, dann kommt es eben wieder auf die Blicke an und die Ideen. Die haben sie.
„Stille – Dirk Reinartz und Schüler“. Bis zum 10. September, Martin-Gropius-Bau Berlin, Katalog 25 €