: Die beschwingende Kraft des Neuen
Deutschlands Hockeyfrauen verkraften den Wechsel von Extrainer Weise zum Männerteam unerwartet gut. Nachfolger Michael Behrmann hat das Team sogar weiterentwickelt und führt es ins Finale der Europameisterschaft
MANCHESTER dpa ■ Michael Behrmann saß in seinem schwarzen Trainingsanzug unter den gewöhnlichen Zuschauern und sah sich das Spiel Niederlande gegen England an, als sein Handy klingelte. Er wollte sehen, ob sich die schärfsten Rivalen der deutschen Frauen-Nationalelf bei der Hockey-Europameisterschaft in Manchester neue taktische Kniffe hatten einfallen lassen, aber nun, gerade wo es bei einer Strafecke interessant wurde, gab es Wichtigeres für den Bundestrainer. Er hörte via Telefon von einem neuen, fantastischen Lied. Getextet und gesungen hatte es der Anrufer höchstpersönlich – sein Sohn Tim, zweieinhalb Jahre alt. Es geht so: „Papa hat gewonnen, Papa hat gewonnen!“
Nachdem sie bislang alle Turnierspiele gewann, hat die deutsche Elf an diesem Samstag im Endspiel gegen die Niederlande die Chance des Außenseiters, erstmals Europameister zu werden. Dreimal standen deutsche Frauen bereits im EM-Finale, dreimal verloren sie. „Zweiter war Deutschland schon so oft, da hat doch keiner mehr Lust drauf“, sagt Behrmann. Eine Erfolgsgeschichte ist diese EM jedoch schon jetzt. Das Turnier hat die Erkenntnis gebracht: Es gibt ein Frauenleben nach Markus Weise. Behrmanns Vorgänger führte die Elf zum Olympiasieg in Athen, und als er im Herbst 2006 zur Männerelf weiterzog, äußerte etwa Spielführerin Marion Rodewald die Angst, so einer wie Weise würde sich nicht mehr finden.
Von neuen Trainern erwartet das Publikum Revolutionen, und Michael Behrmann, 40, aus Hamburg, der seit zwölf Jahren in der Anonymität des Nachwuchshockeys Jugendnationalteams trainierte, lieferte stattdessen, was wahre Klassetrainer auszeichnet: Evolution. Ihm ist die natürliche Weiterentwicklung des Teams gelungen, ohne dass da etwas stockte, etwas ruckelte.
Behrmann hat der Elf die beschwingende Kraft des Neuen übertragen, über die jeder frische Trainer per se verfügt. Auch weil er das Team schleichend mit jungen Kräften unterwanderte. Dabei hat Behrmann keine unbekannte Spielerin hervorgezaubert; er hat nur die Gewichte in der Elf verschoben. Randfiguren unter Weise sind plötzlich die Protagonisten, Maike Stöckel, 23, endlich eine Mittelstürmerin mit brachialem Drang zum Tor, oder Julia Müller, 21. „Was hilft sie mir, wenn sie nach 35 Minuten platt ist?“, fragte einst Weise. Behrmann schickte für sie Marion Rodewald aus der Abwehr ins Mittelfeld, und Müller gibt in Manchester eine umwerfende Verteidigerin.
Als Michael Behrmann auf der Tribüne das Handygespräch mit seinem Sohn beendete, hatte er die niederländische Strafecke verpasst. Es machte nichts. Behrmann kann alle holländischen Varianten auswendig und richtig vorhersagen. Langsam und stetig, wie der Fluss fließt, haben sich die deutsche Frauen an die vor drei Jahren noch übermächtigen Niederlande herangetastet. Ein Sieg am Samstag wäre eine Überraschung, aber kein Wunder. Es ist eine große Woche für die Familie Behrmann. Sohn Tim saß am Dienstag zum ersten Mal in einem richtigen Feuerwehrauto. RONALD RENG