: Schwarze Schafe allerorten
PFLEGE Zwei Stadträte erheben massive Anklagen gegen Pflegedienste: Jeder zweite rechne falsch ab. Die Bezirke seien mit den Ermittlungen überfordert
Es gehe „nicht um einen guten Ruf, sondern um Fakten“. Mit diesen Worten widerspricht der Neuköllner Sozialstadtrat Michael Büge (CDU) der Chefin des Pflegedienstes Detamed, Nare Yesilyurt. Diese hatte am Montag in der taz seine Vorwürfe wegen angeblicher Abrechnungsbetrügereien ihrer Firma zurückgewiesen. Gegen Detamed und einen anderen Pflegedienst hatte der Stadtrat vergangene Woche Anzeige erstattet. Der Verdacht: Es seien Leistungen abgerechnet worden, die nicht erbracht wurden.
Von Schäden in Millionenhöhe war die Rede. In den zwei Fällen, in denen Büge bisher Anzeige erstattete, geht es nach seinen Aussagen um mehrere tausend Euro – die Millionenbeträge seien „Hochrechnungen“, so Büge. Sein Amt habe bisher in jeder geprüften Pflegeakte „Defizite“ gefunden. Sein Fazit: „Wir gehen von 50 Prozent schwarzen Schafen in der Branche aus.“
Sowohl im Senat wie auch in anderen Bezirken wundert man sich über Büges plötzliche öffentliche Ermittlungsaktivität. Auch ihr Bezirk habe in der Vergangenheit bereits mehrfach Anzeigen gegen Pflegedienste erstattet, so die Tempelhof-Schöneberger Gesundheitsstadträtin Sibyll Klotz (Grüne). „Aber wir gehen damit nicht an die Öffentlichkeit – schon gar nicht mit Firmennamen, wenn es noch gar nicht zu einer Verurteilung gekommen ist.“ Da habe sich wohl jemand profilieren wollen als einer, „der in der Stadt für Recht und Ordnung sorgt“, so Klotz.
Auch in der für den Pflegebereich zuständigen Senatsverwaltung für Soziales zeigt man sich von Büges Vorstoß überrascht. Seit Juni gebe es bereits einen runden Tisch zu dem Thema, so eine Sprecherin der Sozialsenatorin Carola Bluhm (Linkspartei). Daran seien die Bezirke wie auch das Landeskriminalamt beteiligt. Man habe der Staatsanwaltschaft im August vorgeschlagen, eine Schwerpunktstelle zu Ermittlungen in Sachen Pflegebetrug einzurichten. „Für solche Ermittlungen ist es nicht unbedingt hilfreich, dass Büge jetzt an die Öffentlichkeit geht“, so die Sprecherin. Überdies gehöre die Kontrolle der Abrechnungen von Pflegeleistungen von jeher zu den Aufgaben der Bezirke, für die ihnen im vergangenen Jahr sogar jeweils zwei zusätzliche Stellen bewilligt worden seien: „Wenn Herr Büge jetzt auf einmal in jeder Abrechnung Fehler findet, hat er seine Kontrollaufgabe vorher nicht gut gemacht.“
Der grüne Sozialstadtrat von Mitte, Stephan von Dassel, sieht die Lage ganz anders als seine Parteifreundin Klotz und die Sozialverwaltung. Der runde Tisch sei eine „Zangengeburt“ gewesen: „Wir mussten den Senat zum Jagen tragen“, so Dassel. Er bestätigt den Eindruck, dass es „mafiöse Strukturen“ in der Pflegebranche gibt, den sein CDU-Kollege Büge hat entstehen lassen: „Wir als Bezirke sind damit überfordert: Wir sind ja keine Mafiaspezialisten!“ Von Dassel will am Freitag gemeinsam mit seinem Neuköllner Kollegen Büge Belege für ihre massiven Vorwürfe gegen die Pflegebranche vorlegen.
ALKE WIERTH