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Archiv-Artikel

Eine aus der Zeit gefallene Straße

KULTUR Die Dissertationsschrift von Katharina Uhl beschreibt die Böttcherstraße als Gesamtkunstwerk, das die völkische Ideologie der Moderne ästhetisch erfahrbar mache

Von JPK
Roselius inszenierte Hoetger als mittelalterlichen Baumeister

Trotz ihrer Lage inmitten der Stadt wirkt die Böttcherstraße sonderbar abseitig. „Irgendwie wie die Winkelgasse bei Harry Potter“, murmelte einmal eine junge Touristin, als die Stadtführung Station an diesem Bremer Wahrzeichen machte. Mit diesem „irgendwie“ beschäftigt sich auch die Forschung. Die Kulturwissenschaftlerin Katharina Uhl hat gar ihre Dissertation darüber geschrieben, die kürzlich unter dem Titel „Januskopf Böttcherstraße. Kulturelle Erneuerung, gebaute Utopie und nationale Identität“ beim Münsteraner LIT Verlag erschienen ist.

Uhl bestimmt die Böttcherstraße als ein Stückwerk aus den widersprüchlichen Elementen Expressionismus und Historismus. Dass sie dennoch eine geschlossene Einheit bildet, ist eine Besonderheit, der Uhl hier nachgeht. Ihrer Zeit entrückt war die Böttcherstraße bereits von Anfang an. Als der Kaffeehändler Ludwig Roselius sie in den 1920er-Jahren bauen ließ, wollte er damit eine vermeintlich verlorene germanische Vergangenheit als Ideal der Zukunft heraufbeschwören – und nebenbei für seinen entkoffeinierten Kaffee werben.

Die geschlossene Gegenwelt stand in deutlichem Widerspruch zum zeitgenössischen Urbanitäts-Diskurs. Denn während die Stadt im Allgemeinen als Raum der Distanziertheit und der Offenheit verstanden wurde, stellt die Böttcherstraße das genaue Gegenteil dar. Laut Uhl ist dies ein Angebot an die Bevölkerung, sich mit ihrem vermeintlichen Ursprung zu identifizieren.

Die expressionistischen Bauten des Bildhauers Bernhard Hoetger wirken im Straßenbild als krasser Kontrast etwa zum pseudogotischen Roselius-Haus im Zentrum der Anlage. Sich auf Hoeters Arbeiten zu konzentrieren, ist in der einschlägigen Literatur nicht ungewöhnlich und liegt in der Sache selbst: Roselius habe Hoetger als „Baumeister einer mittelalterlichen Kathedrale“ inszeniert, schreibt Uhl.

Für ihre Darstellung des „Gesamtkunstwerks Böttcherstraße“ arbeitet Uhl aber auch Gemeinsamkeiten heraus: Der Expressionismus zitiert die Gotik mit ihrem Streben zum Göttlichen. Bei Hoetger entspreche das einer „germanischen Sonnensehnsucht“ – zumindest sei seine germanisch-völkische „Utopie“ ästhetisch daran anschlussfähig. Neu ist nach Uhl nun, dass weder für die Tradition noch für die Moderne Position bezogen werde. Stattdessen gehe beides eine Verbindung ein, die auf die Zukunft gerichtet sei.

Uhl sieht das als Reaktion auf die von Konservativen als krisenhaft empfundenen Weimarer Zeit. Uhl benennt auch die inhaltliche und personelle Nähe zum Nationalsozialismus – etwa den Einfluss des Atlantis-Forschers Hermann Wirth, der das SS-Ahnenerbe begründete und später wie Hoetger auch in Ungnade fiel.

Uhls Analyse der Straße als „kulturelles Raumbild“ verbindet die physikalisch vorhandene Böttcherstraße mit der Intention dahinter und reflektiert die Strategien der Aneignung. Letztlich geht es also um die ästhetische Erfahrbarkeit von Ideologie. Vor diesem Hintergrund liest sich dann auch Uhls ausführliche Beschreibung der einzelnen Bauten mit Gewinn. Anhand der einzelnen Bauabschnitte lässt sich Roselius’ ideologische Entwicklung nachvollziehen.

Auch die Zitate des konservativen Kaufmanns Roselius sind mehr als Anekdoten. Wenn er etwa angesichts von Widerständen der Baubehörde über die „Spießer“ fluchte, zeigt dies doch, wie er seine Straße als Rebellion und Provokation verstand. Dass es Uhl gelingt, solche Details als Fundament der Analyse zu erarbeiten, ohne sich dabei in Nebensächlichkeiten zu verlieren, ist die große Leistung ihrer Arbeit. Weil das gelingt, ist das Buch tatsächlich auch für regelmäßige Besucher der Böttcherstraße ausgesprochen interessant.  JPK