ausgehen und rumstehen : Die Stille vor dem Sommerschluss
Berlin wird still. Die meisten Touristen sind auf dem Heimweg. Das Sommerloch findet ein Ende. Der Rosenthaler Platz könnte in einer Vorstadt liegen, so ruhig ist es. Nur vor dem Hinterhof der Möbelfabrik in der Brunnenstraße stehen noch Menschen herum, in die Jahre kommende Intellektuelle fachsimpeln mit blutjungen Mädchen, Punks mit Hipstern, das sieht alles sehr besonnen aus. Es ist vier Uhr an einem Samstagmorgen.
Berlin wird still, der Sommer verschwindet auf leisen Sohlen. Im U-Bahn-Schacht stimmt ein bedürftiger Musiker seine in die Jahre kommende Gitarre. Unten sitzen zwei schweigsame Raucher, ein Mann mit Fahrrad verflucht die Bahn, die gerade weg ist, aber selbst das geschieht leise. Die nächste kommt in vierzehn Minuten, man nimmt es gelassen. In den Nächten vergeht die Zeit schneller, besonders im Sommer, selbst wenn man warten muss.
Im Wagon ist das Licht gelb. In den Sitzen hängen in die Jahre kommende Menschen und dösen vor sich hin. Eine hellblonde Frau mit leicht gekrümmter Nase kratzt sich beständig an den Fesseln, die jeweils einen sehr flatschigen Insektenstich aufweisen. Eine Studentin setzt sich neben einen Studenten mit runder Brille, beide starren vor sich hin. Einem Schläfer kippt der Rollkoffer um, kurz fährt Schreck in ein paar vom Alkohol gelöste Glieder. Mehr Aktion gibt es nicht. Es ist spät geworden. Die Stadt wird ruhig. Das Ende des Sommers ist nah.
Selbst am Kottbusser Tor ist es leise. Niemand schreit herum, niemand spricht laut Englisch oder gar Spanisch. Wie häufiger in diesem Jahr geschehen. Im roten Schatten einer Fußgängerampel steht ein sanft sich küssendes Paar, das gemütliche Tuckern einer Vespa zieht vorüber. Am Firmament malt die ruhige Morgenmaschine nach München ihre Kondensstreifen ins aufkommende Blau. Die Nacht verabschiedet sich.
Heim, bei einer letzten Zigarette wollen sich die Erlebnisse des Abends nicht wirklich rekapitulieren lassen. Man hat Schallplatten aufgelegt, keine große Sache, zumal man niemanden zum Tanzen bringen musste, schon gar nicht die Verhältnisse. Die Schallplattenunterhaltung fand in einer gut besuchten Bar statt. Die Bar trägt den umständlichen Namen „Ich koof mir Dave Lombardo, wenn ick reich bin“ und liegt am Zionskirchplatz. Die meisten Gäste saßen zwar draußen an diesem letzten Sommertag, es war aber trotzdem nett.
Natürlich ist so eine Barbeschallung nicht mit einem DJ-Abend in der Möbelfabrik oder dem bei Touristen sehr beliebten „Monarch“ zu vergleichen. In einer Bar Schallplatten aufzulegen ist nämlich in etwa so, wie einen Diavortrag vor Fremden zu halten. Man wird gar nicht oder nur lausig bezahlt, dafür kann man obskure B-Seiten spielen, gemischt mit Hitsingles, die man vor 24 Jahren im Plattenladen der Fußgängerzone einer westdeutschen Kleinstadt gekauft hat. Wenn es gut läuft, und es lief gut, bekommt man anerkennende Blicke und das eine oder andere Lächeln zugesteckt. Und nachdem man zum Schluss Astrud Gilberto, die Wings („Mull of Kintyre“, ja, ja!) und eine 7-Inch von der Band George hat laufen lassen, gibt der Wirt Taxigeld und eine Runde eines Schwergetränks aus, und man findet noch Zeit für ein Gespräch über Schauspielerinnen, bevor man sich der Bettschwere überlassen möchte und Richtung U 8 losgeht. Taxi war doch zu teuer. RENÉ HAMANN