Chirurgische Perspektiven

NAHOST JCall ist eine Gruppe, die sich aus jüdischer Perspektive an israelischer Politik reibt. Ein Reader versammelt ihre Positionen

Die Fürsprecher von JCall bescheiden sich mit sicherheits- und identitätsfixierten Argumentationen

Nachdem der arabische Frühling und die israelische Protestbewegung für kurze Zeit die Hoffnung beflügelt hatte, dass die Menschen in der Region wichtigeres im Sinn haben als den Konfliktklassiker Israel/Palästina, sind alle internationalistischen Visionen spätestens nach der Stürmung der israelischen Botschaft in Kairo und den neuen antizionistischen Allüren der Türkei wieder auf dem harten Boden der Realität angekommen: Der Friedensprozess befindet sich weiterhin im Zustand völliger Stagnation. Dass auch die rechtslastige Regierungspolitik Israels kaum eine Möglichkeit auslässt, diesen Zustand zu zementieren, hat seit mehreren Jahren zu einiger Verunsicherung innerhalb der liberalen jüdischen Diaspora in den USA wie in Europa geführt: Wie verhält man sich zu einer Regierung, die durch ihre Politik zur Isolierung Israels beiträgt, humanistische und jüdische Werte verletzt und sich obendrein gern als Interessenwahrer aller Juden inszeniert?

2010 entstand nach immer schrilleren innerjüdischen Auseinandersetzungen um diese Fragen die Organisation JCall als europäisch-jüdische Lobbygruppe gegen die derzeitige israelische Außenpolitik, 8.000 Unterschriften kamen innerhalb weniger Zeit für ihr Anliegen zusammen. Um den eigenen Standpunkt gerade auch gegen den Vorwurf einseitiger Israelkritik zu stärken, hat JCall kürzlich in Frankreich ein Bändchen mit Beiträgen prominenter Unterstützer verschiedenster politischer Couleur herausgebracht. Das gemeinsame Engagement so unterschiedlich tickender Denker wie Daniel Cohn-Bendit, Alain Finkielkraut, David Grossman und Bernard-Henri Lévy lässt auf interessante Einsichten hoffen.

Das Ergebnis ist jedoch, zumindest aus linker Perspektive, betrüblich. Denn schon im Problemaufriss spiegelt sich bei allem Goodwill die Verfahrenheit der derzeitigen Situation. Die Autoren plädieren vehement für die Beendigung der Besatzung und die Schaffung eines palästinensischen Staates. Ihre Angst gilt einer schleichenden Annexion des Westjordanlands durch Israel, das so in eine demografische Falle geraten könnte: Mit einer Angliederung der mehrheitlich arabischen Gebiete im Osten müsste Israel entweder auch den Palästinensern volle Bürgerrechte zugestehen, was das Ende Israels als jüdischer Staat besiegelte. Oder es müsste zur Aufrechterhaltung der jüdischen Hegemonie eben jenes Apartheidregime etablieren, das Antizionisten schon heute in jedem Gesetzentwurf wittern.

Dabei scheint es durchweg, als wollten die Fürsprecher von JCall dem Vorwurf der Illoyalität gegenüber Israel zuvorkommen, indem sie sich gänzlich mit den sicherheits- und identitätsfixierten Argumentationen bescheiden, die den traurigen Stand der heutigen Diskussion prägen. Letztlich geht es um eine möglichst saubere Trennung beider Staaten, Menschen als soziale Wesen kommen dabei kaum vor.

Solch eine chirurgische Perspektive verstellt sich aber nicht nur den Blick gegenüber dem voraussehbaren Schicksal eines zukünftigen Palästinas als failed state. Sie verengt auch den Horizont auf eine Vision homogener Staatsvölker, gegenüber der der Expansionsdrang der Siedler fast wie die Aufrechterhaltung einer kosmopolitischen Hoffnung unter verkehrten Vorzeichen daherkommt.

Dieses Fahrenlassen des Anspruches auf zwischengesellschaftliche Versöhnung scheint auch in der Bemerkung Lévys auf, man solle sich nicht länger in hochtrabenden Projekten eines „Make love, not war“ verlieren, stattdessen lautete die Parole der Zeit „Make peace, not love“. Viel zu lange hätten die Politiker dem Traumtänzer Che Guevara nachgeeifert, anstatt sich den nüchternen Statebuilder Fidel Castro zum Vorbild zu nehmen.

Nach der Lektüre der teilweise sogar als zu radikal kritisierten Positionen von JCall wird einmal mehr bewusst, wie wenig Spielraum politische Visionen für den Nahostkonflikt haben. Vielleicht bleibt da wirklich nur noch die Forderung eines zurechtgestutzten Che: „Seien wir realistisch, fordern wir das Mögliche.“

TILMAN VOGT

■ David Chemla (Hrsg.): „JCall, les raisons d’un appel“. Editions Liana Levi, Paris 2011, 128 Seiten, 7 Euro