: Film muss fließen
Das Wasser ist eines der Hauptmotive des französischen Regisseurs Jean Renoir, dem das Arsenal eine Retrospektive ausrichtet. Wie er das Natürliche mit dem Theatralischen verband, macht ihn bis heute zu einem aufregenden Künstler des Kinos
VON EKKEHARD KNÖRER
„La Fille dans l’eau“, das Mädchen im Wasser, ist Gudule (Catherine Hessling), die Tochter eines Binnenschiffers. Nach dem Tod des Vaters muss sie das Schiff und die Kanäle verlassen, lebt mit Zigeunern in der Nähe des Flusses, wird von ihrem brutalen Onkel Jeff mit Vergewaltigungsabsichten verfolgt und hat, im heftigen Regen in der Nacht, eine Fieberfantasie. Das Mädchen im Wasser ist das Mädchen, das träumt, und zwar Albträume. Es wird zum durchscheinenden Gespenst im Traum, allein im Wald, es steht neben einem Baum, daran ein gehängter Mann. Später kriecht durch einen Säulengang eine Riesenechse, Männer eilen horizontal in halber Höhe die Säulen entlang quer durchs Bild. Das ist ein Traum aus dem Geist von Meliès, eine mit naiver Tricktechnik aufgerüstete Fantasie. Der strömende Regen verflüssigt das Melodram ins Imaginäre.
Das Wasser ist ein Leitmotiv im vielgestaltigen Werk Jean Renoirs, und zwar vom ersten Film an, eben „La fille dans l’eau“ (1924). Da findet sich ganz am Anfang eine Sequenz, in der eine Figur vor statischer Kamera auf dem im Fluss vorwärts treibenden Kahn geht und geht und nur so, in steter Bewegung, im Bild bleibt. „Ohne Wasser kann ich mir das Kino nicht vorstellen“, schreibt Renoir in seiner Autobiografie. „Die Bewegung des Films hat etwas Unausweichliches, das an den Lauf von Bächen und das Dahinströmen von Flüssen denken lässt.“
In der Komödie „Boudu, aus den Wassern gerettet“ (1932) flieht der aus einem Fluss gerettete und in die bessere Gesellschaft aufgenommene Tramp Boudu (Michel Simon) zum Schluss ins Wasser zurück, lässt sich den Fluss hinabtreiben, weg von der Gesellschaft. Er reißt sich an Land den Anzug vom Leib und wirft sich in die Lumpen einer am Wegesrand stehenden Vogelscheuche.
Die Natürlichkeit der Bewegung, das Fließende, kurz: das Prinzip Wasser, ist die eine Seite des Kinos von Jean Renoir. Dazu gehören die langen Kamerafahrten, die die Darsteller umfließen, ihnen bei ihren Improvisationen folgen, aber auch die innovative Arbeit mit Originalton, ermöglicht durch im Freien zahlreich aufgehängte Mikrofone. Dem Raum wie dem Spiel der Figuren will Renoir nicht in die Quere kommen, sei es mit Schnitten an falschen Stellen oder Festlegungen im Vorhinein. Die andere Seite aber bildet, als notwendige Begrenzung dieses Fließens, eine Lust an der Künstlichkeit, die durch die Omnipräsenz des Theaters, nicht zuletzt des Puppentheaters, in Renoirs Filmen markiert ist.
Schon „Boudu“ ist gerahmt durch ein Theaterspiel, im längst kanonisierten Meisterwerk „Die Spielregel“ (1939) kommt es ebenso zu einer Theateraufführung wie natürlich im Commedia-dell’Arte-Kostümfilm „Die goldene Karosse“ (1953). Noch Renoirs letzter, 1970 fürs Fernsehen entstandener Films trägt programmatisch den Titel „Jean Renoirs kleines Theater“. Der vom Filmtheoretiker André Bazin herausgestrichene „Realismus“ im Kino Renoirs liegt deshalb genau in der Überblendung des Natürlichen und des Künstlichen, im Gegen- und Miteinander von Flüssigem und Stilisiertem. Oder auch, strikt filmsprachlich, im Kontrast zwischen der Entdeckung des filmischen Raums durch den Einsatz von Tiefenschärfe und Kamerafahrten und der Schaffung eines umgrenzten Bild-Eigenraums, etwa durch die von Renoir fetischisierte Großaufnahme.
Mit ihren zwanzig Filmen bietet die vom Institut Français und dem Arsenal gemeinsam veranstaltete Retrospektive einen Querschnitt durch alle Phasen von Renoirs Schaffen. Entdecken lassen sich die experimentierwütigen Stummfilme, mit denen der Regisseur große Teile seines Vermögens – und das heißt die vom Vater Auguste geerbten Gemälde – verlor. Wieder in Augenschein zu nehmen sind die Klassiker wie „Die große Illusion“ (1937) und das Meisterwerk „Die Spielregel“ (1939). Nach dem Einmarsch der Nazis in Frankreich ging Renoir nach Hollywood ins Exil, und die in den USA entstandenen Werke – von denen nur „Tagebuch einer Kammerzofe“ (1946) gezeigt wird – belegen zwar, dass Jean Renoir und Hollywood nicht zueinander passen, das aber auf durchaus interessante Weise.
Renoir drehte, stets ohne Scheu vor technischen Neuerungen, einige der berückendsten Farbfilme nicht nur des französischen Kinos. Dazu gehören der mit amerikanischem Geld in Indien gedrehte „The River“ (1951), über den Frieda Grafe schrieb: „Der Film behandelt eine Farbfusion. Die indischen Landesfarben Grün und Rot reagieren auf Technicolor.“
In seiner letzten Phase findet Jean Renoir dann noch einmal einen anderen Ton. Burlesk bis frivol setzt er Figuren am Rande der Hysterie in Szene. In der Satire „Frühstück im Grünen“ (1959), mit der die Retrospektive am Samstag eröffnet, jagt er einem allzu kühlen Experten für künstliche Befruchtung nicht weniger als Pan, die freie Natur, Wind, Wetter und eine junge Nacktbadende im fließenden Wasser auf den Hals. Souverän ist der späte Renoir, hier, aber auch im fantastisch überdrehten Historien-Lustspiel „Weiße Margeriten“ (1956) mit Ingrid Bergman, gerade im Zulassen eines Chaos, das er kontrolliert, ohne es bändigen oder zügeln zu wollen. Als „intelligentesten Film der Welt“ hat Jean-Luc Godard „Weiße Margeriten“ bezeichnet – wie ohnehin die Bewunderung der „Nouvelle Vague“-Regisseure für Renoir keine Grenzen kannte. Bedeutend an Renoir ist nicht nur das Werk, das er schuf, bedeutend sind auch die Werke, die er als Vorbild für eine ganze Generation französischer Filmemacher möglich machte.
Die Retrospektive beginnt morgen und läuft den ganzen September. Termine unter www.fdk- berlin.de