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Archiv-Artikel

Albtraumwelt eines Berührten

ABGRUND Oskar Roehler beschreibt eine beschädigte Jugend: „Herkunft“

VON EVA BEHRENDT

Einer der besten Filme von Oskar Roehler, „Die Unberührbare“, handelt von seiner Mutter. Die Schriftstellerin Gisela Elsner ist pleite, einsam und eine Kommunistin, die kurz nach dem Mauerfall von Schwabing zu ihren „Freunden“ nach Ostberlin ziehen will. Die Reise wird zur Irrfahrt einer abgehalfterten Diva, die Roehler mit schonungslosem, doch zärtlichem Blick auf ihren letzten Stationen begleitet: Der Sohn will ihr kein Speed besorgen, die Eltern wollen kein Geld mehr borgen, mit dem Exmann kommt es zum finalen Besäufnis. Sie landet in einer Klinik, wo sie sich das Leben nimmt.

So tief der Abgrund auch war, in den der Regisseur schaute: Er hat den Abgang seiner Mutter mit Grandezza und in elegischen Schwarz-Weiß-Bildern verewigt. Dabei hat sie ihn (und seinen Vater, den Lektor Klaus Roehler) verlassen, als er drei war. Oskar Roehler, geboren 1959, wuchs abwechselnd bei seinen Großeltern, im Internat und beim Vater auf, der rund um 68 lieber Sex und Partys frönte, statt sich um seinen Sohn zu kümmern. Roehler hat davon freimütig in Interviews erzählt. Doch losgelassen hat ihn – das ungewollte Kind – seine Familiengeschichte nie, und wie zur Revanche bedient er sich immer wieder aus diesem finsteren Fundus.

Auch sein Romandebüt „Herkunft“ berichtet auf 600 Seiten noch einmal die ganze Geschichte. Dass es sich bei aller erzählerischen Potenz auch um ein therapeutisches Projekt handelt, ist spürbar. Denn das Buch ist seltsamerweise am stärksten und dichtesten, solange der Icherzähler Robert Freytag noch gar nicht die Lebensbühne betreten hat. Es ist die Zeit des Wirtschaftswunders, und Roehler beschreibt mit seinen Eltern und Großeltern beispielhaft die Kälte, die Brutalität und die dahinter liegende Sehnsucht der Kriegs- und Nachkriegsgeneration. Je älter aber Enkel Robert wird, desto mehr entgleiten dem Autor die anfangs in ihren Ambivalenzen scharf konturierten, von der Zeit geprägten Figuren.

Das Buch setzt 1949 mit einer Dreiecksgeschichte ein. Als Erich Freytag aus sowjetischer Gefangenschaft zu seiner Familie zurückkehrt, löst er seine Frau Elli aus einer glücklichen Liebesbeziehung mit seiner Schwester Marie heraus. Roehler schildert den Heimkehrer als verbitterten Unbelehrbaren, der einen Verbündeten ausgerechnet in Rolf findet, seinem schriftstellernden Sohn. Aus der Porzellangießerei, die er wieder aufbaut, wird bald eine florierende Gartenzwergfabrik. Auch in der Familie der gescheiten, destruktiven Schülerin Nora, Rolfs Braut, geben Geld und Status den Ton an. Der Vater ist Firmendirektor, wird aber in der Nürnberger Villa von seiner Aufsteigergattin Mechthild regiert, die aggressiv mit ihren Töchtern konkurriert.

Roehler hat in seinen Filmen immer wieder peinlich genau Platzangst erzeugende Elternhäuser, von blankem Materialismus bestimmte Beziehungen und Luft abschnürende Spießbürgerlichkeit geschildert. Auch im ersten Drittel von „Herkunft“ gelingt ihm das grandios für die Großeltern – und für die Liebe der Eltern, die Ausbruchsversuch aus den engen Verhältnissen ist, aber auch zäher Machtkampf. Nora, die Rolf betrügt und künstlerisch verrät, benutzt selbst das Kind, das sie Rolf vielleicht nur unterschiebt, als Waffe – erst soll es Rolf an Nora binden, dann fesselt es Nora selbst, so dass sie versucht, das Baby schon in der Schwangerschaft loszuwerden. Nichts da. „Ich ploppte, der Legende nach, ,wie ein Sektkorken‘ aus ihrem Bauch.“

Von da an steht kein allwissender Erzähler mehr am Steuer, sondern ein abgeschobenes Kind. Zwar gelingt Roehler in der Schilderung von Robert Freytags ersten Lebensjahren eine surreale Albtraumwelt, und auch die Westberliner Jahre beim Vater, der zeitweise behauptete, die Kasse der RAF zu verwalten, haben das Zeug zum Horrorstück. Doch weitaus größeren Raum nimmt Roberts verzweifelte Suche nach einer heilen Familienwelt ein – und sein Scheitern daran. Er klinkt sich in die Nachbarsfamilie seiner unterfränkischen Großeltern ein und kehrt auch später immer wieder zu deren Tochter Laura und in die heimatliche Natur zurück, die all die Unbedingtheit und Reinheit symbolisieren müssen, die dem Jungen fehlt. So bewegend sich diese Chronik einer beschädigten Jugend immer noch liest: Es fehlen ihr der Figurenreichtum, die Wucht und Distanz des verheißungsvollen Beginns.

Oskar Roehler: „Herkunft“. Ullstein, Berlin 2011, 592 Seiten, 19,99 Euro