Prekäre Lehre

SCHEINSELBSTÄNDIG Eine Dozentin der Volkshochschule Lüneburg verklagt ihren Arbeitgeber nach 15 Jahren freier Mitarbeit auf Festanstellung. Ihre Kurse gibt nun ein anderer

„Ich sehe das sozialpolitische Dilemma“

Gerhard Cassens, VHS Lüneburg

VON ANDREAS SCHNELL

Die wirtschaftlichen Verlockungen, statt fest Angestellter Freie zu beschäftigen, sind groß. Die sind billiger als Festangestellte, müssen im Krankheitsfall nicht bezahlt werden, und Urlaub machen sie auf eigene Rechnung. Wenn überhaupt. Kündigungsfristen fallen meist weg, Sozialabgaben auch, zumindest für die Unternehmer.

Eine Branche, in der freie Mitarbeit besonders geschätzt wird, ist der Bildungsbereich. Doch in den letzten Jahren kam es immer wieder zu Prozessen – wegen Scheinselbständigkeit. Derzeit klagt Linda Sulimma (63), VHS-Dozentin aus Lüneburg, gegen ihren Auftraggeber, für den sie seit 15 Jahren tätig ist.

Das Arbeitsgericht Lüneburg hatte ihr im März letzten Jahres Recht gegeben und festgestellt, dass die bislang auf Honorarbasis beschäftigte Dozentin Anspruch auf Festanstellung habe. Die „durch Vorgaben geprägte langjährige Eingliederung in den Unterrichtsbetrieb“ sei das entscheidende Kriterium für ein Arbeitsverhältnis, stellte Richter Ralf Ermel fest. Die VHS Lüneburg legte Berufung ein.

Sulimma gibt unter anderem Mathe für jene, die den Haupt- oder Realschulabschluss nachholen möchten. Die ausgebildete Lehrerin sei dabei weisungsgebunden und habe bei der Gestaltung ihrer Arbeit keine größeren Spielräume, wie Rudolf Kiesewetter, der Sulimma vor Gericht vertritt, betont. Deshalb liege ein Arbeitsverhältnis vor. So urteilte auch das Arbeitsgericht.

Gerhard Cassens, Leiter der VHS Region Lüneburg, sieht das anders. Anders als in anderen Bundesländern gebe es in Niedersachsen keinen zweiten Bildungsweg. Die Möglichkeit, Haupt- oder Realschulabschluss nachzuholen, sei hier seit 1972 über das Erwachsenenbildungsgesetz geregelt. Bei den Vorbereitungskursen liege der Fokus nicht auf Wissensvermittlung. Es gehe eher darum, Prüfungsängste und Blockaden abzubauen. „Die Dozenten sind nicht an einen Lehrplan gebunden, wie es ihn in anderen Ländern gibt.“

Bei der VHS Hannover, so Sulimmas Anwalt, sei der Fall gerichtlich geklärt: Die Dozenten, die dort im entsprechenden Bereich unterrichten, haben mittlerweile feste Arbeitsverhältnisse. Cassens weiß natürlich darum und auch um die Forderungen, Honorarkräfte abzusichern. Das sei aber nicht finanzierbar. Die Honorarkräfte wüssten um die Bedingungen und nähmen die damit verbundenen Unsicherheiten in Kauf.

Zwar sei in der rot-grünen Koalitionsvereinbarung das Vorhaben formuliert, die Vorbereitungskurse für externe Prüfungen für den Haupt- und Realschulabschluss kostenlos anzubieten und den Status der Dozenten abzusichern. Das habe aber weder zu Reformen noch zu einer Bezuschussung geführt. „Ich sehe das sozialpolitische Dilemma“, so Cassens.

Im Oktober trafen sich die Kontrahenten zuletzt vor Gericht. Richter Ermel schlug eine Gütevereinbarung vor, um eine Weiterbeschäftigung Sulimmas zu erreichen. Die VHS wollte darauf nicht eingehen. Sie ließ ihre Kurse auslaufen und besetzte neue Kurse, die Sulimma sonst übernommen hätte, mit anderen Lehrkräften. Sollte die VHS das Verfahren gewinnen, steht die Dozentin vor dem Nichts, sagt ihr Anwalt. Dass Sulimma bei der Kursvergabe nicht mehr berücksichtigt wurde, sei „keine Bestrafung“, so Cassens.

Ende Januar gibt es einen neuen Termin vor dem Arbeitsgericht.