: Tod in Stammheim
Dass die in Stammheim inhaftierten Gründer der RAF sich selber töteten, wird nicht mehr ernsthaft bestritten
l8. Oktober 1977, Stuttgart-Stammheim, 7. Stock, 7.41 Uhr: Justizobersekretär Gerhard Stoll schließt die Zelle 716 auf. Er und Hauptsekretär Willi Stapf wollen dem Häftling Jan-Carl Raspe das Frühstück bringen. Raspe, auf seinem Bett halb aufrecht gegen die Wand gelehnt, röchelt. Aus seiner Schläfe läuft Blut. Der schwer Verletzte wird gegen 8 Uhr ins Stuttgarter Katharinenhospital gebracht, wo er um 9.40 Uhr stirbt. Um 8.07 Uhr öffnen Beamte die Zelle 719: Andreas Baader liegt auf dem Boden, den Kopf in einer Blutlache. Erschossen. In Zelle 720 hängt Gudrun Ensslin am Gitterrost des rechten Zellenfensters. Auch sie ist tot. In Zelle 725 liegt Irmgard Möller zusammengekrümmt auf ihrer Matratze. Sie überlebt.
Um 8.35 Uhr sendet dpa die Eilmeldung über den Tod von RAF-Gefangenen. Wenige Stunden zuvor, um 0.05 Uhr, hatte die Grenzschutzsondereinheit GSG 9 im somalischen Mogadischu die Geiseln aus dem gekaperten Mallorca-Flieger „Landshut“ befreit. Beide Ereignisse besiegeln das Schicksal des von der RAF entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer. Einen Tag später, am 19. Oktober, wird seine Leiche in einem in Mülhausen im Elsass abgestellten Pkw gefunden.
Für die RAF war es ein Tabu, für viele Linke jahrelang die Glaubensfrage: Wurden Baader, Ensslin und Raspe ermordet oder brachten sie sich selbst um? Vertrauen in staatliche Institutionen gab es, wenn überhaupt, nur wenig. Der Arbeiterkampf, die Zweiwochenzeitung des Kommunistischen Bundes, titelte: „Wir glauben nicht an Selbstmord“, und erzielte mit 80.000 Exemplaren eine seitdem nicht mehr erreichte Rekordauflage. Aber auch in liberalen Kreisen wurden die Meldungen über den Stammheimer Selbstmord angezweifelt. Dass die RAF-Kader ermordet wurden, war in linksradikalen Kreisen das gemeinsame Gefühl – und dass deshalb die Bundesrepublik allenfalls über einen demokratischen Firnis verfüge, nicht aber über eine rechtsstaatliche Substanz.
Karl-Heinz Dellwo, 1975 an der Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm beteiligt und deshalb zu zweimal lebenslänglicher Haft verurteilt, erklärte erstmals 1998, dass es auch in der RAF schon früh Zweifel am Mord gab. Die These sei innerhalb der RAF aber weder diskutiert, geschweige denn revidiert worden. In dem Buch „Nach dem bewaffneten Kampf“ schreibt er: „Heute sehe ich auch anderes im Tod der Stammheimer Gefangenen: Sie haben denen draußen den politischen, aber auch persönlichen Zwang der permanenten Eskalation an der Gefangenenfrage abgenommen. Nach ihrem Tod war die RAF draußen und von der Verpflichtung für das Leben der Gründergeneration befreit, also auch frei, alles neu zu entscheiden“. Baader, Ensslin und Raspe wurden am 27. Oktober 1977 auf dem Dornhaldenfriedhof von Stuttgart beigesetzt. WOLFGANG GAST
WOLFGANG GAST, 48, arbeitet seit 1989 für die taz. An die These vom Mord hat er viele Jahre geglaubt