Erinnerung verdrängt

Ein Verfahren wegen Menschenhandels und Zwangsprostitution gegen ein Pärchen aus Findorff wurde eingestellt. Dem Gericht reichte die Aussage der wohl geistig behinderten Geschädigten nicht

Von Christian Jakob

Mit einer Einstellung endete gestern vorm Amtsgericht ein Verfahren wegen Menschenhandels und Zwangsprostitution. Einem türkischen Kneipenbesitzer und seiner litauischen Lebensgefährtin war vorgeworfen worden, im Frühjahr 2006 Beihilfe zur Verschleppung zweier Litauerinnen geleistet zu haben. Diese seien anschließend in einer Wohnung über der Kneipe des Türken am Findorffer Torfhafen eingesperrt, misshandelt, vergewaltigt und über sieben Wochen zur Prostitution gezwungen worden.

Während die 29-jährige angeklagte Hausfrau Inga V. jede Aussage verweigerte, erklärte ihr Lebensgefährte Yussuf H., den beiden Frauen lediglich die Wohnung über seiner Kneipe vermietet zu haben. Erst das Ordnungsamt habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass die beiden dort der Prostitution nachgingen. Daraufhin habe er das Mietverhältnis aufgelöst und eine der Frauen „auf eigene Kosten“ zurück nach Litauen geschickt.

Die andere Litauerin war im Bürgerpark von Passanten gefunden und in ein Frauenhaus gebracht worden. In insgesamt sechs Vernehmungen belastete sie die beiden Angeklagten und eine weiteren Litauer schwer. Sie gab an, in Litauen für umgerechnet 30 Euro und eine Flasche Champagner ihrem Vater abgekauft worden zu sein. Man habe ihr in Aussicht gestellt, in Deutschland als Putzfrau arbeiten zu können. Als sie in Bremen ankam, hätte Inga V. sie und eine weitere Litauerin zur Prostitution gezwungen und ihnen alle Einnahmen abgenommen. Yussuf H. habe als Wärter fungiert, die Wohnung der beiden über seiner Kneipe verschlossen gehalten und sie mit Essen und Kondomen versorgt. Wenn die beiden Frauen sich geweigert haben, weiterzuarbeiten, seien sie von dem Mann, der sie nach Bremen brachte, misshandelt worden.

Der Prozess war im November vergangenen Jahres unterbrochen worden, nachdem die Geschädigte es abgelehnt hatte, in Anwesenheit der Angeklagten auszusagen. Sie befürchtete, dass ein Zusammentreffen mit den Angeklagten bei ihr eine Retraumatisierung auslösen könnte. Das Gericht ordnete daraufhin eine neurologische Untersuchung an. Gestern mussten die Angeklagten den Gerichtssaal für die Dauer der Aussage der Geschädigten verlassen.

Die Geschädigte wurde von Beamten eines Zeugenschutzprogrammes der Bremer Polizei in das Gericht gebracht, die sie während ihres gesamten Aufenthaltes in Deutschland begleiteten. Inwieweit sie auch in Litauen solchen Schutz genießt, ist nach Angaben ihrer Anwältin offen. Der litauische Haupttäter, dem mehrfache schwere Körperverletzung und Vergewaltigung vorgeworfen werden, ist flüchtig und wird in Litauen vermutet. Dorthin reiste auch die Geschädigte nach ihrer gestrigen Ausreise zurück.

Laut neurologischem Gutachten ist die Geschädigte vermutlich geistig behindert. In ihrer gestrigen Aussage widersprach sie ihren früheren Einlassungen in mehreren Punkten. Das Gericht stellte deshalb das Verfahren gegen Yussuf H. ohne Auflagen ein, Inga V. muss 750 Euro an die Geschädigte zahlen.

„Frustrierend“ nennt die Anwältin der Geschädigten, Birgit Behnken, die Gerichtsentscheidung. Die Widersprüche in der Aussage ihrer Mandantin seien eine „normale Reaktion bei posttraumatischen Störungen“. Man hätte auf Grundlage der Aussagen, die ihre Mandantin bei vorangegangenen richterlichen Vernehmungen gemacht habe, entscheiden müssen.

Das Bremer Verfahren hat Seltenheitswert. Einem gestern veröffentlichten Lagebild des Bundeskriminalamtes (BKA) in Wiesbaden zufolge wurden im vergangenen Jahr bundesweit lediglich 353 Ermittlungsverfahren wegen Menschenhandels zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung abgeschlossen. Dabei wurden knapp 800 Opfer festgestellt. Das BKA selbst spricht von einem „hohen Dunkelfeld“. Die Frankfurter Frauenrechtsorganisation „FIM“ geht davon aus, dass weniger als 10 Prozent aller Fälle behördlich erfasst werden.