: Sehnsucht nach Vergangenheit
KUNST UND DISKURS Nationales Selbstverständnis in Bildern? Ein Band dokumentiert eine Spurensuche der Berliner Nationalgalerie
Thomas Demand ist ein ungewöhnlicher Künstler. Der Berliner, Jahrgang 1964, baut aus Papier maßstabsgetreu Räume oder historische Szenen nach, fotografiert diese und zerstört danach das Modell. Die Abstraktionswirkung, die er mit seinen menschenleeren Aufnahmen erzielt, verdichtet seine Tableaus zu allgemeingültigen Symbolen, zur Essenz einer Situation.
Eine Methode, wie geschaffen für ein Projekt von Udo Kittelmann. Lässt sich nationales Selbstverständnis in Bilder fassen, hatte sich der Direktor der Berliner Nationalgalerie gefragt. Und in Demand einen kongenialen Partner gefunden. Dessen Bild „Drei Garagen“ mit den geriffelten Schwingtüren in Metallicgrün aus dem Jahr 1995 lässt sich unschwer als Sinnbild deutscher Spießerwelten lesen. Im Herbst 2009 sahen die Besucher es in der Schau, die denselben Titel trug wie das Haus, dem der experimentierfreudige Kittelmann vorsteht: „Nationalgalerie“.
Die Idee ist so ungewöhnlich wie naheliegend. Denn historisch gesehen ist die Nationalgalerie die Vorwegnahme der deutschen Einheit auf dem (Um-)Weg der Kunst. Jedenfalls beseelte dieser Wunsch ihre Entstehung im 19. Jahrhundert. Es liegt in dieser Logik, gut zwanzig Jahre nach der Deutschen Einheit und 150 Jahre nach der Gründung der Nationalgalerie, die Kunst erneut zu bemühen, um auszuloten, was diese ominöse Kulturnation im Kern eigentlich ausmacht.
Wer die Vortragsreihe, die die Ausstellung begleitete, verpasst hat, kann nun aufatmen. Weltbewegende Erkenntnisse hat er nicht versäumt, wie die Dokumentation der zwei Jahre alten Reden beweist. Zu der Prägnanz, die Demands Bilder auszeichnet, fanden die dreißig eingeladenen Geistesgrößen aus dem In- und Ausland nur selten, als sie sich an 16 Abenden an der Frage abmühten: „How German is it?“.
Eine Ausnahme ist Herfried Münkler. Wie viel unverarbeitete Geschichte in Demands schweigenden Bildern steckt, was man aus ihnen ideologiekritisch herausholen kann, beweist der Berliner Politologe in einem luziden kleinen Beitrag über die Liebe der Deutschen zum Wald. Inspiriert von Demands Bild „Lichtung“, einem grandiosen trompe l’oeil, auf dem der Künstler eine Waldeslichtung aus 270.000 Papierblättern so täuschend echt „nachgebaut“ hat, dass man sie umstandslos für echt hält, begibt sich Münkler auf mythologische Spurensuche von Tacitus bis Ernst Jünger. Und diagnostiziert ein Psychogramm seiner Landsleute zwischen der romantischen Sehnsucht nach Vereinzelung und der Suche nach Gemeinschaft. Ansonsten spulten von dem Philosophen Jacques Rancière bis zur Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller leider fast alle nur routiniert ihr jeweiliges Lieblingsthema ab.
Denken mit Geländer
Das Ominosum „deutsches Wesen“ bleibt in diesen Lektionen sattsam vertraut: Es hat Sehnsucht nach der Vergangenheit. Demands Bild „Zeichensaal“ vor Augen sieht der Architekt Philip Oswalt dieses Motiv hinter dem Berliner Schlossbau. Es hat Angst vor zu viel Chaos. Diese Furcht löst Demands Bild „Büro“ bei Joachim Gauck aus. Es zeigt durchwühlte Aktenberge in der Stasizentrale in der Berliner Normannenstraße. Und es flüchtet sich in den „Präventionsstaat“, wie der ehemalige FDP-Bundesinnenminister Gerhart Baum warnt. Auf Demands Bild „Attempt“ (Anschlag) sieht man den nachgebauten Raketenwerfer, mit dem die RAF im August 1977 die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe unter Feuer nehmen wollte. Ein bisschen mehr „Denken ohne Geländer“ (Hannah Arendt) hätte man sich bei dem Versuch, den Diskurs von der Kunst inspirieren zu lassen, schon gewünscht.
Die Liste der Prominenten in dem Band ist lang. Es fehlt auch nicht an ein paar originellen Querköpfen wie dem Chefdesigner der BMW-Group, Adrian van Hooydonk. Der entdeckt in Demands Modellbau Parallelen zu dem seiner Designerkollegen. Aber ausgerechnet zwei alten Ringvorlesungshasen gelang es, Perspektiven über den Tag und das Klischee hinaus zu entwickeln.
Michael Blumenthal, der Direktor des Jüdischen Museums in Berlin, zieht aus der Geschichte der Deutschen den Schluss, sie hätten „ein Beispiel dafür zu setzen, wie in einer globalen Welt Minderheiten als gleichberechtigte Bürger in einem Land zusammenleben können“. Und der Soziologe Wolfgang Engler, Direktor der Berliner Schauspielschule Ernst Busch, rät der Politik zur Abkehr vom „Fraktionszwang“, den er als Relikt einer zivilisatorisch überholten „Sippenhaft“ deutet. Sollten die ordnungsliebenden Deutschen eines Tages wirklich Geschmack an Vielfalt und Streit finden – an diesem Wesen könnte die Welt gefahrlos genesen. INGO AREND
■ Udo Kittelmann und Thomas Demand (Hg.): „Nationalgalerie. How German is it?“. Suhrkamp, Berlin 2011, 432 Seiten, 29,90 Euro