: Das große Krabbeln
LEBEN Joachim Schummer entlarvt in seiner kurzweiligen Wissenschaftsgeschichte den Mythos des Gott spielenden Biochemikers
VON ULRICH KÜHNE
Wenn das Craig Venter wüsste! Für die künstliche Erschaffung neuer Lebensformen braucht es nicht mehr als etwas Feuchtigkeit, Wärme und eine Handvoll Dreck. Je nach Variation der Randbedingungen im Experiment entstehen daraus nach kurzer Zeit Würmer, Maden, Schmeißfliegen oder schleimige Amphibien.
Wir erinnern uns, welches Geschrei durch die Medien zog, als 2010 der smarte amerikanische Genpionier Craig Venter verkündete, ihm sei im Labor geglückt, die „erste sich selbst replizierende synthetische Bakterienzelle“ herzustellen. Von einem neuen Dr. Frankenstein war die Rede und von einem moralischen Dammbruch – dabei bezog sich seine „chemische Vollsynthese“ nur gerade mal auf das Erbgutmolekül des mikroskopisch kleinen Einzellers, dessen Bauplan Venter zudem einfach aus der Natur kopiert hatte.
Die Geschichte der künstlichen Lebensherstellung, die der Wissenschaftsphilosoph und Chemiker Joachim Schummer in leichter Sprache und knappen Kapiteln aufgeschrieben hat und die von den antiken Mythen und Sagen, über Philosophie, Alchemie, den Beginn von Aufklärung und Naturwissenschaft bis in unser Medienzeitalter reicht, steckt voller Skurrilitäten und entlarvt in dichter Folge die Missverständnisse und Geschichtsvergessenheit der aktuellen Debatten über die Biotechnologie.
Für blasphemisch hielt man die künstliche Herstellung von Leben bis ins 19. Jahrhundert nicht, schließlich hatte ja Gott selbst die tote Materie mit dieser Fähigkeit ausgestattet, unter geeigneten Umständen zu Lebensformen zu verklumpen, die sich anschließend auch geschlechtlich vermehren. Moralische Bedenken gab es nur, „weil daraus in erster Linie Ungeziefer hervorging, das niemand mochte“.
Die Verwandlung der spontanen Lebensentstehung „von einer alltäglichen Banalität in eine Bedrohung der Grundfesten des christlichen Glaubens“ verbunden mit dem heute allgegenwärtigen Vorwurf an die Wissenschaft, „Gott spielen“ zu wollen, ist paradoxerweise eine Folge wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Erst durch Charles Darwin (1809–1882) entstand eine naturgesetzliche Entwicklungstheorie für Leben, die keine Ausnahmen mehr zulässt, und erst seit den Experimenten von Louis Pasteur (1822–1895) weiß man, dass noch nicht einmal Mikroben spontan entstehen können – wenn die Versuchsanordnung vorher wirklich sorgfältig sterilisiert wurde.
Als wenig später, 1899, ein Dr. Loeb unbefruchtete Seeigeleier durch chemische Behandlung zur Knospung brachte, führte das schon zu Boulevardschlagzeilen, die sich mit minimalen Variationen schließlich durch das gesamte 20. Jahrhundert ziehen.
Im Jahr 1970 beispielsweise hat ein James Frederic Danielli eine Amöbe aus Einzelteilen fusioniert. Auch damals war von der „ersten künstlichen Synthese einer lebenden Zelle“ die Rede und der Spiegel titelte: „Biochemie: Senkrecht zur Hölle“.
Schummer weist überzeugend nach, dass die „Wissenschaftspopularisierung durch moralischen Alarmismus“ durchaus einer Symbiose von Labor und Boulevard entspringt. Ein hochspezialisierter Chemiker, dem man vorwirft, Gott ins Handwerk zu pfuschen, mag sich ziemlich bedeutend fühlen. Die Atomphysiker hatten es im Kalten Krieg schließlich vorgemacht, wie man durch moralische Dämonisierung zu staatlichen Großforschungsprojekten kommt.
Angesichts des offensichtlichen Schindluders, der mit Gott in den ethischen Debatten über Biochemie getrieben wurde, kann man sich fragen, ob die Religionen nicht besser beraten wären, sich ganz von der Moral des mikroskopisch Kleinen, von Proteinen, Genen und Zellhaufen, fernzuhalten und Wissenschaft zukünftig nur in ihren Auswirkungen auf die Welt des Offensichtlichen außerhalb der Labors zu bewerten.
Hinter den lustigen Episoden einer vergessenen Wissenschaftsgeschichte entfaltet das Buch von Joachim Schummer jedenfalls eine nachhaltige Wirkung auf das moralische Verständnis der Chemie des Lebens.
■ Joachim Schummer: „Das Gotteshandwerk. Die künstliche Herstellung von Leben im Labor.“ Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 240 Seiten, 12 Euro