Eine weiße Eule zwinkert uns zu
VEXIERBILDER Jean-Luc Godard, der alte Meister des Kinos, hat einen neuen Film gedreht: „Film Socialisme“
Europa, die Kreuzfahrt, das Gold und die Tiere – Godards Film ist eine Serenade, ein Abendlied
VON EKKEHARD KNÖRER
Ein Seufzer geht durch Europa. Abend- und Griechenland, Zivilisation, Sozialismus, Athen, Neapel, Odessa: ach, ach und ach. Zurück zu den Quellen wendet Jean-Luc Godard, inzwischen 80 Jahre alt, prophetisch den Blick. Hellas ist in seinem jüngsten Werk „Film Socialisme“, der vor der Schuldenkrise des Landes entstand, nicht nur Hellas und Hell As, sondern auch und vor allem: hélas, auf Deutsch eben: ach.
Armes Europa, pauvre Europe, sagt eine dunkelhäutige Frau an der Reling eines Kreuzfahrtschiffs vor pechschwarzem Hintergrund, nachts. Ihr Blick geht in die Kamera, dann geht er hinaus auf die See. Wind zaust ihre weiteren Worte. Sie streckt die rechte Hand aus, der Zeigefinger weist in Vergangenheit oder Zukunft nach links aus dem Bild. Die Frau wechselt von Französisch zu Italienisch: „Imagina un deserto.“ Stellen wir uns eine Wüste vor Augen. Damit endet Teil eins, es folgt eine Schwarzblende, von da geht es an Land, Teil zwei trägt den Titel „Nôtre Europe“, „unser Europa“, Musik setzt ein, es singt jemand „imagina un concerto“.
Assoziationen, Verschiebungen dieser Art – Wüste, Konzerte – geben als Bild- und als Wortspiel zu Land und zu Wasser dem Film Struktur und Rhythmus und machen ihn zum mal faszinierenden, mal enervierenden Vexierbild, das er ist.
Tickende Assoziationen
Ein Kreuzfahrtschiff namens „Serena“ (Flaggschiff der Linie „Costa“) ist der Schauplatz des ersten Teils oder besser sollte man wohl doch, da die Struktur eine musikalische ist, sagen: des ersten Satzes des Films. „Film Socialisme“ ist, so betrachtet, eine Serenade, ein Abendlied unter heiterem Himmel, ein Lied, das von der Zeit erzählt, ist aber auch eine tickende Assoziationsmaschine, in der eine Uhr eine wichtige Rolle spielt, deren goldenes Räderwerk sich aufs Filigranste bewegt und dann plötzlich stillsteht: „Wie viel Uhr ist es? Just the right time.“ Godard-Dialoge wie diese locken, versprechen Sinn und Erklärung, und im nächsten Satz, im nächsten Bild, in der nächsten Bewegung entzieht es sich wieder.
Natürlich ruft das die Dechiffriersyndikate auf den Plan, die nach Sinn und Zusammenhang graben und schürfen wie Goldsucher an den Flüssen und Bächen des Westens. Man kann die Spur des Goldes verfolgen, das als Raubgold von Spanien nach Moskau gelangte; Otto Goldberg heißt ein alter Mann auf dem Schiff. Das erste Bild im Film: zwei Papageien, loro auf Spanisch, el oro (also, auch Spanisch: Gold). So geht das weiter und weiter und weiter. Geld, heißt es, ganz zu Beginn, sollte so sehr niemandes Eigentum sein wie das gischtende Wasser, das man sieht: „Film Socialisme“. Und am Ende werden die Filmindustrie-Copyright-Mahnungen karikiert und in Godard-Schrift kommentiert: „Wenn das Gesetz nicht gerecht ist, geht Gerechtigkeit vor Gesetz.“ Copy that.
Das Schiff, die „Serena“, ist gewiss eine Allegorie, aber einfach nur ein Narrenschiff, das in den Untergang des Abendlands unterwegs wäre, ist es nicht. Sonst träte nicht in einem leeren Saal kurz der Philosoph Alain Badiou als Husserl-Interpret darin auf und spräche über die Geometrie als Goldstandard der Philosophie. Sonst wäre nicht Patti Smith, mal singend und mal die Gitarre nur auf der Schulter, als Ehren-Europäerin mit im Boot.
Überhaupt ist viel Kunst, Tradition, Abendland – Benjamin, Derrida, Rougement, Bergson, Arendt, Giraudoux – im babylonischen Stimmengewirr auf der Tonspur an Bord. Gewiss, es gibt den cranky old Ingrimm des späten Godard im Blick aufs Kreuzfahrt-Casino, auf den zusammengehauenen Gottesdienst in der schmucklosen Bar. Auch den Katzencontent meint Godard eher nicht freundlich, eine junge Frau, die durch das Schiff geistert, guckt den Clip mit den „two talking cats“ Stina und Mossy, die bei YouTube, Stand heute, mehr als 45 Millionen mal angeklickt wurden. Dennoch stecken im Ausruf „Armes Europa“ Verzweiflung und Zärtlichkeit, Mitleid und Düsternis zu ungefähr gleichen Teilen.
„Ach, Deutschland“, sagt mit heftigem französischem Akzent eine junge Frau, die an einer Zapfsäule Balzac liest („Verlorene Illusionen“), es steht ein Lama daneben. So beginnt, nach einem Interludium, der zweite Satz. Schauplatz ist eine Autowerkstatt und Tankstelle, geführt von Familie Martin. Hier geht es um eine Generationenkonfrontation. Die Kinder fordern ihr Recht, in der Familie, dem Geschäft, der Politik, sie haben möglicherweise das Kommando bereits übernommen. Es werden die Vorgänge dieser sicher auch allegorisch zu begreifenden Vorgänge von einer schwarzen Fernsehreporterin ständig gefilmt. Es gibt neben der lesenden Tochter einen jüngeren blonden Sohn, der trägt ein rotes T-Shirt mit der Aufschrift „SSSR“, dirigiert mit dem Taktstock und malt einen Renoir. Dieser zweite Satz ist beinahe ein Spielfilm, wenn auch einer von Jean-Luc Godard.
Im dritten und letzten Satz kehren viele Motive zurück. Europa, die Kreuzfahrt, das Gold und die Tiere. Eine weiße Eule zwinkert uns zu. Die erste russische Revolution, die Treppe in Odessa, Szenen aus Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“, der Film nähert sich in seiner Form der assoziativen Montage, die man aus Godards „Histoire(s) de Cinémas“ kennt. Eindeutigkeiten und klare Leseanweisungen ergeben sich nicht. Für die grandiosen Montagen, die etwa im Bildausschnitt Trapezkünstler durchs Bild fliegen lassen zu toller Musik, begeistert man sich oder auch nicht.
Godard spricht als Filmemacher heute ein Idiom aus allen Idiomen. Er ist Hellas und Babel, Europa und dabei ganz und gar idiosynkratisch Jean-Luc Godard. Vermittelbar ist das nicht. Eine Kunst für alle und zugleich ganz für sich.
■ „Film Socialisme“, Regie: Jean-Luc Godard. Mit Jean Marc Stehlé, Patti Smith u. a. Schweiz 2010, 102 Min., Start am 29. September