Reise ins Heilige und zurück

Der Soziologe Abdellah Hammoudi schreibt so analytisch wie einfühlsam über seine Pilgerreise nach Mekka. Die Chronik verdichtet sich zu einer „éducation spirituelle“

VON ILIJA TROJANOW

Das ist kein Buch über den Islam, sondern ein Buch über eine Reise. Eine Pilgerreise, die zwar im Mittelpunkt des muslimischen Lebens und Sehnens steht, die aber trotz aller streng zu befolgenden Regeln für jeden Pilger zu einer intimen Erfahrung wird. Es ist vor allem eine persönliche Erzählung, von einem Mann geschrieben, dem man hierzulande in manchen Kreisen das Recht absprechen würde, sich Muslim zu nennen, da ironischerweise gerade in der säkularen Wahrnehmung nur der Strenggläubige für den Islam steht.

Abdellah Hammoudi ist ein „kultureller Muslim“, und er stellt zu Beginn seines Hadschberichts klar, dass er weder dogmatisch noch fromm ist. Statt zu beten, hat er ein Erwachsenenleben lang religiöse Gebräuche analysiert. Als Soziologe, der in Frankreich studiert hat und heute in Princeton lehrt, bedarf er keiner Unterweisung in die Techniken der skeptischen Untersuchung. Er ist ein analytischer Geist, der sich ins Heilige begibt.

So vielfältig die Erfahrungen beim Hadsch auch sein mögen, fast jeder Pilger erfährt Momente des Entzückens und Glücks, aber auch der Verärgerung, Erschöpfung und Panik. Insofern können Bücher über diese Pilgerfahrt weder prototypisch noch allumfassend sein. Allerdings kommt Hammoudi dem Ideal eines Hadschberichts ziemlich nahe – eine enorme Leistung, wenn man bedenkt, dass er in einer Tradition steht, die schon Tausende vergleichbarer rihlas und safernamahs hervorgebracht hat.

Zu Beginn seiner Erzählung kehrt Hammoudi aus den USA in sein Herkunftsland Marokko zurück und durchläuft die normalen, unprivilegierten Bahnen der Pilgerreisevorbereitung. Er wird Zeuge einer buchhalterischen Schulung, bei der verschiedene Gebete und Riten bis ins letzte Detail auswendig gelernt werden, der höhere Sinn des Hadsch jedoch, das Moment der mystischen Entzückung, völlig missachtet wird. Er erlebt die weit verbreitete Korruption, mit der die heiß begehrten Quotenplätze verwaltet werden. Schon hier zeigt sich Hammoudis außergewöhnliche Stärke, Vorfälle sowohl aus der Warte eines einfachen Betroffenen zu schildern, in sanfter, vorsichtig auftretender Sprache, zugleich aber auf einer zweiten Spur mit analytischem Verstand die Hintergründe auszuleuchten, die Selbstlügen, die Mythen und die Machtkonstellationen:

„Ich begriff schließlich die offenkundige Tatsache, dass Regieren in diesem Sinn nicht darin Bestand, Befehle zu erteilen und Gehorsam einzufordern oder ein ‚legitimes Gewaltmonopol‘ auszuüben und zu bewahren. Regieren beruhte vor allem darauf, sich zum Wächter über die notwendigen Wegstrecken zur Erfüllung der Wünsche zu machen.“

Sein Blick wird noch schärfer, als er endlich aufbrechen kann, nach Medina zuerst, und dann weiter nach Mekka. Zwar ist Hammoudi wie alle Pilger in der Vertrautheit seiner eigenen Reisegruppe aufgehoben, in die er sich in aufgewühlten Momenten noch enger hüllt als in den dünnen weißen ihram, den er wie alle anderen Männer tragen muss. Doch nehmen Begegnungen mit Pilgern aus anderen Ländern, so weit er sich mit ihnen unterhalten kann, vor allem also den Iranern und den Indonesiern, einen herausragenden Platz ein. Da Hammoudi sich wertende Kommentierungen meist versagt, durchzieht eine feine Ironie seine Erzählung, etwa wenn ein Mullah aus Iran ihm versichert, sie alle seien Muslime und somit nicht sehr voneinander unterschieden, um dann mit heiligem Ernst das Kommen des letzten Imam vorherzusehen und die Errettung allein der Seinigen.

Höhepunkt von Hammoudis Hadsch ist natürlich der Eintritt in die Große Moschee in Mekka. Der von in Erfüllung gehenden Sehnsüchten aufgeladene Raum, das Perpetuum mobile des Pilgerstroms um die Kaaba herum, ein abstraktes Symbol des Unerreichbaren, überwältigen auch den nüchternen Betrachter: „Tränen traten mir in die Augen, ohne sich zu ergießen, und machten mich den anderen gleich. Wahrscheinlich werde ich nie herausfinden, woher diese Tränen rührten. Die Erfahrung war jedoch sehr konkret und eindeutig, ich fühlte mich, als ob mich der Anblick des ‚Alten Hauses‘ völlig entblößt hätte, ohne jede Zurückhaltung und vor allem ohne Furcht vor irgendeinem Gesetz.“ Es ist jene im Sufismus so zentrale intime Erfahrung der Entblößung und Entrückung, die Hammoudi hier und in den folgenden Tagen immer wieder zuteil wird, wunderschön in einem alten Qawwali zusammengefasst mit den Worten: „Liebe gibt es nur außerhalb des Gesetzes“.

Nein, Hammoudi wird nicht zu einem gehorsamen Diener des Herrn, er lässt sich auch keinen Bart wachsen. Er bleibt seiner Rolle als anthropologischer Betrachter treu, er hinterfragt rücksichtslos sich, seine Mitpilger, Tradition wie Modernität des Hadsch.

Aber er wird doch – fast wider Willen – verwandelt. Und so verdichtet sich diese Chronik gemeinschaftlicher Besinnungen und Erregungen zu einer éducation spirituelle, nicht im Sinne eines esoterischen Vereinfachens der ewigen Geheimnisse, sondern im Sinne einer reichhaltigeren Geistigkeit. In ihren schönsten Augenblicken lassen Pilgerreisen einen glauben, dass ein anderes Leben und eine andere Menschlichkeit möglich wären. Das Gewaltige dieser Erfahrung durch das Prisma eines skeptischen Blicks eingefangen zu haben ist das enorme Verdienst dieses bedeutenden Buches. Wie der Hadsch selbst versetzt es den Geneigten in Euphorie.

Abdellah Hammoudi: „Saison in Mekka. Geschichte einer Pilgerfahrt“. C. H. Beck, München 2007, 310 Seiten, 23,90 Euro In dem Buch „Zu den heiligen Quellen des Islam“ beschrieb Trojanow 2004 seinen eigenen Hadsch