kunst kontainer kassel
: Man lernt nie aus

Endspurt bei der documenta 12. Unpopuläre Irrtümer werden aufgedeckt, abseitige Theoriebände gekauft

Die sechste Woche in Kassel bricht an und jetzt erschließen sich Sinn und Absicht der Ausstellung vollends. Unpopuläre Irrtümer werden aufgedeckt: zum Beispiel die Kronkorken. Wie so vieles, hat man auch diesen seltsamen documenta-Merchandisingartikel schweigend hingenommen. Wozu sich mit der Frage quälen, was diese Anstecknadel mit den vergoldeten Kronkorken eigentlich soll?

Nun flatterte Anfang der Woche ein Merkblatt zum Thema in den Buchcontainer: Der Kronkorken geht auf eine originale Form zurück, die am Friedrichplatz, im Herzen der documenta, gefunden wurde. Kronkorken zeigen nämlich an, wo Menschen verweilen. Einer dieser anonymen Kronkorken wurde nun für die documenta 12 „aus seiner Anonymität befreit, abgegossen und vergoldet. Er wird an die Besucher zurückgegeben, die durch ihren Besuch ebenfalls bewusst oder unbewusst ein Teil des Leitsystems werden.“

Nun, die Sprache der Kunst ist eben eine blumige, sie liebt die Ausschmückung, das Arabeske, und spinnt gerne ein großes Bedeutungsnetz um jedem noch so kleinen Gedanken. Mit dem Palmenhain verhielt es sich ganz ähnlich. Auf markierten Zwischenräumen sollten „Palmenhaine“ zum Kunstgespräch animieren: „Es ist eine Architektur zum Reden und Träumen, die auch in einer Großausstellung Diskussion und Kontemplation möglich machen soll“, hieß es im Vorfeld. Natürlich war auch der kunstfernen Beobachterin klar, dass der Begriff des „Palmenhains“ an sich metaphorisch gemeint ist, aber auch metaphorische Ruhe- und Diskurszonen waren bislang nicht auszumachen. „Ist ja nicht weiter schlimm“, dachte man wohlwollend, „bei so einem Großprojekt bleibt eben manch gute Idee auch einmal auf der Strecke.“ Ist dieses In-Kauf-nehmen-des-Scheiterns nicht auch viel sympathischer als der deutsche Hang zur seelenlosen Perfektion? Aber nun brachte ein Kunstreisender die neue Kunde: Die 1001 alten, kostbaren Weiwei-Stühle, die einzeln und in Ensembles überall herumstehen, das sind praktisch die Palmenhaine. Man lernt nie aus!

Seltsam, seltsam, dachte sich die Buchhändlerin auch in den letzten Wochen, da verkauft man eigentlich tagein, tagaus die gleichen Titel, Jacob, Solakov, „Congo Democratic“, anderes wiederum liegt unberührt im Stapel und plötzlich, aus heiterem Himmel, fragen an einem Nachmittag fünf Kunden hintereinander nach Riedweg. Welche Kräfte sind da bloß am Werk? Psi, morphogenetische Felder oder Zufall, grübelten die Hobby-Marktforscherinnen. In einer stillen Minute fiel es uns wie Schuppen von den Auge: Es muss an der Kunstvermittlung liegen.

Die tapferen Kunstvermittlerinnen nämlich führen die Besucher durch die Ausstellung, fragen bei allzu plumpen Fragen aber auch einmal: „Was sehen SIE denn?“ zurück und bilden so eine wichtige Säule der Kunstschau. Gleichzeitig üben sie wohl eine natürliche Autorität aus, so dass der sanft geführte und erfolgreich kunstvermittelte Besucher hinterher brav den erwähnten Kunst- oder Theorieband erwirbt. CHRISTIANE RÖSINGER

Die Autorin arbeitet in Kassel im Container des documenta-Buchladens: Anlass für die ein oder andere Kolumne