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Archiv-Artikel

Der gelbe Engel von Blankenese

Jochen Engel könnte Flügel gut gebrauchen. Er ist Briefträger im Treppenviertel in Hamburg-Blankenese. 5.600 Stufen läuft er jeden Tag, vier Paar Schuhe verschleißt er im Jahr. Viele geben schnell wieder auf, doch Engel liebt seinen Job – seit 33 Jahren

„Ich hab auch schon von fünf Euro Stundenlohn gehört, da kann man doch nicht von leben“, sagt Engel, der seit 33 Jahren die Post bringt

VON STEFANIE HELBIG

Es ist sechs Uhr morgens. Blankenese schläft noch, nur im Hinterhaus des Postamtes ist Leben. Unter Neonlicht wuseln 25 Menschen in blau-gelben Hemden, werfen Pakete hin und her, schieben Karren voller Briefe durch den Raum. Am Fenster sitzt Jochen Engel zwischen Regalen mit Straßennamen und schiebt Briefe in Fächer. Sein Bezirk ist das Blankeneser Treppenviertel: ein vornehmes Hamburger Viertel, in dem sich alte Fischerhäuschen an den Elbhang drängen, miteinander verbunden durch endlos scheinende Treppen.

Engel will mich heute mitnehmen. „Morgens um sechs ist Dienstbeginn und dann sortiere ich erst mal drei Stunden lang die Briefe“, sagt Engel. Er macht den Job seit 33 Jahren. Manche Briefe wirft er auf einen Haufen. „Die sind verstorben, im Urlaub oder wohnen nicht hier“, das weiß er, ohne nachzudenken. Um acht Uhr kommt eine Frau in das Hinterhaus der Postfiliale. Sie braucht ihre Post früh und holt sie persönlich bei ihm ab, seit Jahren.

Draußen scheint mittlerweile die Sonne, der dritte LKW kommt und bringt die letzten Briefe. Gegen neun Uhr stopft Engel Briefbündel in seinen gelben Trolley. Die Straße ist jetzt voller Menschen. Die Sonne blendet. Überall winken Leute, erzählen Engel die Neuigkeiten „aus dem Ort“, wie man hier sagt. Wir steigen Treppen ab und auf, wieder ab und wieder auf, eine Stunde lang, zwei Stunden, drei Stunden. Engel schwärmt noch immer für das Treppenviertel, auch nach 33 Jahren. Die Gassen, die alten Fischerhäuser, die Elbe – „es ist wirklich so schön hier“. Lieber steigt er jeden Tag 5.600 Stufen auf und ab, als dass LKWs an ihm vorbeirauschen, da ist er sich sicher.

Auch bei Wind und Regen muss Engel sechs Stunden durch die Gassen laufen. Die Regenkleidung der Post weicht innerhalb einer Stunde durch, aber „da gewöhnt man sich dran“, winkt er ab. In seinen vielen Dienstjahren hat er schon so manches Hochwasser erlebt. Dann krempelt er die Hosenbeine hoch – und arbeitet weiter.

Als der Trolley leer ist, ist es zwölf und meine Unterschenkel schmerzen. Das war ja gerade noch erträglich, denke ich und lasse mich auf eine Stufe fallen. Engel geht in einen Friseursalon, ich knete meine Waden. Er kommt mit einem grünen Sack wieder. Die nächste Ladung. Das bedeutet wieder zwei Stunden laufen. „Wir haben auf der Tour Zwischenstationen“, sagt Engel, den ich mittlerweile Jochen nenne.

Weiter geht’s, Trepp auf, Trepp ab, durch Hintergärten und Gässchen. Zweimal trinken wir Kaffee in einer Küche, hören zu, wer dicker geworden ist und wer seine Treppe nicht vernünftig putzt. Am Strandhotel werden wir wieder zum Kaffee eingeladen, eine junge Frau setzt sich dazu. Sie ist zum Studium nach Freiburg gezogen, erzählt sie „ihrem“ Postboten. Nein, Freiburg sei nicht schön, sagt sie und streicht ihre blonden Haare aus dem Gesicht. Zu klein und zu grün. Aber auch Blankenese ist doch klein und grün. „Zu grün politisiert“, meint sie. Immer müsse alles akzeptiert werden, sogar Barfußläufer und Rattenbesitzer. „Aber Ratten sind doch possierlich und intelligent“, sagt Engel. Der Postbote wohnt mit Frau und Kind in Altona, da ärgert sich niemand über Rattenbesitzer.

Um zwei Uhr sehe ich den leeren Karren, jetzt zieht es auch in meinen Oberschenkeln. Und wieder holt Engel neue Briefe. Vier Paar Schuhe verschleißt er im Jahr. Nur nach dem Urlaub ist es für ihn anstrengend, wenn er lange keine Treppen gestiegen ist. Mit 16 wollte er eigentlich zur Polizei, aber da hätte er erst mit 18 anfangen dürfen. „Also bin ich Postbote geworden, und ich bin immer noch zufrieden mit meiner Wahl.“ Drei Jahre hat die Ausbildung gedauert, Postgesetze musste er wälzen, die Strecken der damaligen Bahnsendungen auswendig lernen. Inzwischen dauert die Ausbildung nur noch zwei Jahre. „Das ist heute nicht mehr so hart wie früher“, sagt Engel. Der Job ist es immer noch. Ich rechne aus, dass diese Tour so ist, als würde ich 93 Mal hintereinander zu meiner Wohnung im dritten Stock laufen. Und Engel ist immer noch gut gelaunt. Auch, als ein Mann sich beschwert, dass die Post immer so spät kommt.

Um halb vier ist der letzte Brief im Kasten, ich schleppe mich zur Bushaltestelle – zum Glück müssen wir nicht zurück laufen. An der Haltestelle treffen wir einen Postboten des Konkurrenzunternehmens PIN AG, der so genannten grünen Post. Er ist immer noch unterwegs, rot im Gesicht, verschwitzt. „Nee, ich hab noch nicht Feierabend, will auch nicht wissen, wann“, schnauft er und klettert wieder auf sein Dienstfahrrad. „Die sind billiger, weil sie niedrigere Löhne zahlen“, erklärt mir Engel, als der Kollege in Grün weggeradelt ist. „Ich hab auch schon von fünf Euro Stundenlohn gehört“, sagt er, „da kann man doch nicht von leben.“

Die Deutsche Post hat jüngst einen Tarifvertrag abgeschlossen, in dem ein Mindestlohn von acht Euro für Briefträger vereinbart wurde. Den möchte sie jetzt vom Arbeitsministerium für allgemeingültig erklären lassen (siehe unten).

Engel will mir noch mehr von Blankenese zeigen, aber mir ist einfach nur danach, auf den Boden zu starren. Die Abschiedszigarette auf dem Parkplatz der Post raubt mir fast die Luft. Ein Kollege von Engel stellt sich zu uns und lacht, als er mich sieht. „Das kann nicht jeder, dafür muss man gemacht sein. Neunzig Prozent aller Postbotenneulinge hören schnell wieder auf.“