: Schlaraffenland der Geschichten
LITERARISCHE SCHNITZELJAGD Auf kleinere Hinweise ist zu achten: Vanessa Barbaras Roman „Salatnächte“ liefert ein skurriles Psychogramm eines Dorfes
Anfänge sind eine Kunst. „Als Ada starb, war die Wäsche noch nicht trocken“, beginnt der Roman „Salatnächte“ der jungen brasilianischen Autorin Vanessa Barbara. Ein wunderbarer erster Satz, der mühelos die eigenartige Tonart setzt, in der dieses kleine Buch gestimmt ist. Dur und Moll gehen darin unmerklich ineinander über, Motive überlagern sich permanent, und wovon auch immer die Rede sein mag, stets schwingt noch etwas anderes im Hintergrund mit.
Das Ergebnis könnte man skurril nennen, oder doppelbödig, oder absurd. Aber letztlich ist es von all diesem jeweils nur ein bisschen, denn schließlich kommt noch ein wohldosierter Schuss magischer Realismus hinzu. So ungefähr.
Wovon der Roman handelt, kann man versuchen zu erklären, aber auch das ist nicht eindeutig. Von Otto und Ada ist viel die Rede. Ada aber ist ja schon gestorben, und der alte Otto, ihr langjähriger Ehemann, bleibt allein zurück in jenem Dorf, in dem das Paar immer zusammen gelebt hat und den Kontakt zu den Nachbarn allein durch die allseits beliebte Ada hielt. Nun muss Otto, der durch den Tod seiner Frau keineswegs weniger mürrisch geworden ist, selbst zur Tür gehen, um die Post und die Medikamentenlieferungen aus der Apotheke in Empfang zu nehmen.
Der Junge aber, der in der Apotheke arbeitet und die Arznei austrägt, ist eine Geschichte für sich. Besessen von Beipackzetteln, ist dieser Nico ein wandelndes und sehr gesprächiges Lexikon der Nebenwirkungen, hofft zudem nebenbei, eines Tages den Ärmelkanal überqueren zu können, und hat zu diesem Zweck auch schon mit Schwimmunterricht begonnen. Ob er damit der attraktiven, aber deutlich älteren und etwas verwahrlosten Teresa imponieren will, der es reicht, mit ihren drei Hunden zusammenzuleben, bleibt unklar.
Des Weiteren lebt ein alter Japaner im Dorf, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Jahrzehnte im philippinischen Dschungel für seinen Kaiser die Stellung hielt und nun allein über den Fernseher einen prekären Kontakt zur Wirklichkeit pflegt.
Exotische Zeitgenossen
Wie dieser exotische Zeitgenosse in den Ort kommt, wird ebenso wenig erklärt wie andere Merkwürdigkeiten. Im Zusammenklang all der reichlich disparaten Lebensgeschichten ergibt sich eine Polyfonie der offensiv gepflegten Eigenarten, wie man sie im wirklichen Leben niemals erleben könnte.
Dieses Dorf, irgendwann begreift man das, liegt mitnichten in Brasilien, auch nicht irgendwo anders auf der physischen Erscheinungsform unseres Planeten, sondern in einer Art Schlaraffenland der guten Geschichten, das sich allein durch Lesen bereisen lässt. Und letztlich ist „Salatnächte“ wohl nicht einmal ein Roman, sondern vielmehr als das: eine literarische Schnitzeljagd.
Geschicktes Manöver
All das Gerede über Otto, Ada und die anderen ist nämlich unter anderem auch ein geschicktes Ablenkungsmanöver, das ein dahinter liegendes finsteres Geheimnis verschleiert. Es lohnt sich, auf kleinere Hinweise zu achten.
Die eigentlich wichtigste Frage, so viel darf wohl verraten werden, lautet nämlich in Wirklichkeit: „Wohin ist der Ersatzbriefträger gegangen?“ Und warum stellt irgend jemand eine Haushaltshilfe ein, die nicht einmal bügeln kann? Wenn man schließlich nicht nur die Frage, sondern auch die Antwort erkannt hat, so wird auch klar, wo genau auf der großen globalen Geschichtenlandkarte Vanessa Barbaras Dorf wohl liegen muss: nämlich ganz in der Nähe von Joel und Ethan Coens Fargo. KATHARINA GRANZIN
■ Vanessa Barbara: „Salatnächte“. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Marianne Gareis. A1 Verlag, München 2014, 176 Seiten, 18,80 Euro