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Archiv-Artikel

Deshalb trauern wir heute allein

„Vielleicht wäre ja eine Website das angemessene Mahnmal“

Es ist der Himmel, der Kurt Andersen nervös macht. Immer im September, wenn die schwüle Sommerluft auf den Atlantik hinausgeblasen wird und die Skyline von Manhattan in ein klares frisches Blau gehüllt ist, kommen diese Angstgefühle zurück, die den Radiomoderator, Magazinkolumnist und Buchautor seit sechs Jahren verfolgen. Nie mehr wird Kurt Andersen die schönste Jahreszeit am Hudson so genießen können wie früher, vor dem 11. September 2001.

Kurt Andersens Büro liegt nur ein paar hundert Meter von Ground Zero entfernt, sein täglicher Weg zur U-Bahn führt direkt daran vorbei. Schon deshalb, sagt er, vergehe kein Tag im Jahr, an dem er nicht für ein paar Momente an 9/11 und an die schlimme Zeit danach denken muss. Jetzt im September, sagt er, werden es immer ein paar Momente mehr als gewöhnlich.

Dieses private Gedenken, so der frühere Chefredakteur des New York Magazine, reiche ihm jedoch völlig aus. Ansonsten wird der 52-Jährige heute wie jeden Tag seinen Geschäften nachgehen. Die offiziellen Feierlichkeiten an dem riesigen Bauloch zwischen Liberty, Church und Vesey Street interessieren ihn ebenso wenig wie die Zeremonien in Washington, die den ganzen Tag von CNN übertragen werden.

„Ich neige zu der gleichen Meinung, wie Bürgermeister Bloomberg“, sagt Andersen, der in seiner wöchentliche New-York-Kolumne lokale und nationale Angelegenheiten aus gemäßigt linksliberaler Sichtweise kommentiert. Michael Bloomberg, der in diesem Frühjahr aus der republikanischen Partei ausgetreten ist, um, wie man vermutet, sich als unabhängiger Kandidat um die Präsidentschaft zu bewerben, hatte im Juli vorgeschlagen, die Zeremonien am Ground Zero dieses Jahr ausfallen zu lassen. Fünf Mal, so der Bürgermeister der Millionenmetropole, seien genug – es sei Zeit, nach vorne zu schauen.

Bloomberg löste mit seinem Vorschlag einen Sturm der Entrüstung aus. Herzlos und kaltschnäuzig sei er, warf man ihm vor. Kurt Andersen hingegen findet, er habe recht. „Niemand sagt doch zu den Angehörigen, sie sollen einfach ihren Verlust vergessen.“ Die Frage sei doch vielmehr, ob man nicht die Form des Gedenkens überdenken solle. Wovon New Yorker wie er die Nase voll hätten, sei nicht das Andenken, sondern diese „Fahnenschwenkerei“, wie Andersen es ausdrückt, der Ruf zu den Waffen, der mit den offiziellen Gedenkfeiern verbunden sei, kurz, die wohlfeile Politisierung dieses Datums.

Kleiner, leiser und privater wünscht sich Kurt Andersen die Gedenkzeremonie. Und vor allem weniger zornig. „Der Tenor ist doch immer noch, dass wir Opfer sind und wütend und deshalb das Recht haben, zurückzuschlagen.“ Für diese Reaktion, so der Journalist, sei die Zeit jetzt jedoch abgelaufen. An ihre Stelle solle etwas treten, das mehr die stille Trauer in den Vordergrund stellt. „Dass 3.000 Menschen dort gestorben sind, das war furchtbar. Aber das Wichtigste an ihrem Tod war doch nicht, dass sie Amerikaner waren und wir als Nation sie jetzt sühnen müssen.“

Andersen selbst hat seinen Frieden gemacht. Das merkt er daran, dass er sich in seiner Heimatstadt New York wieder weitestgehend heimisch fühlt. „Meine Frau und ich waren hysterisch nach 9/11“, erzählt er. „Wir haben uns ernsthaft überlegt, ob New York noch die richtige Stadt ist, um Kinder großzuziehen. Ironischerweise wollten wir damals nach New Orleans ziehen. Spätestens seit dem Hurrikan ‚Katrina‘ haben wir dann jedoch gegenüber New York einen gesunden Fatalismus entwickelt.“

Das Unwohlsein, das ein klarer blauer Septemberhimmel auslöst und das vermutlich ein Leben lang nicht mehr weggehen wird, haben die Andersens als Teil ihres Lebens akzeptiert. Es gehört mittlerweile zu dem Grundrepertoire dessen, was es heißt, New Yorker zu sein. Und daran ändert auch keine Rede von George Bush etwas und kein feierliches Abspielen der amerikanischen Nationalhymne. SEBASTIAN MOLL

Die Gedenkfeiern am Ground Zero? Edmund Reiter rollt mit den Augen. „Das ist doch nur ein PR-Termin für Politiker“, sagt der 76-jährige pensionierte Geschichtslehrer und nimmt einen weiteren Schluck Tee. „Da reden sie von Trauer und von Opfern, und dann verbietet Bush, dass die Leichen gezeigt werden, die aus dem Irak zurückkommen. Da reden sie von Heldentum, und dann verweigern sie denen, die bei den Aufräumarbeiten am Ground Zero vergiftet wurden, die medizinische Unterstützung.“ Bis ins Mark verlogen findet Reiter das alles. Wirkliche Trauer um die Opfer des 11. September finde jedenfalls bei der offiziellen Gedenkveranstaltung anlässlich des Jubiläums nicht statt: „Amerikaner können gar nicht wirklich trauern“, sagt er.

Reiter hingegen kennt sich mit Trauer aus. Er hat als jüdisches Kind in einem Dorf in den polnischen Karpaten den Holocaust überlebt. 21 Monate lang hatten Freunde ihn mit seiner Familie in einem zwei mal zwei Meter großen Loch unter ihrem Kuhstall versteckt. Als die sowjetische Armee das Dorf befreite, waren von den zuvor 1.500 Juden noch 27 übrig. Sechs Jahre später kam Reiter nach einem Umweg über Deutschland nach New York. Seither geht er jedes Jahr zum Treffen der Holocaust-Überlebenden im jüdischen Museum am Battery Park in Manhattan, es liegt nur hundert Meter vom ehemaligen World Trade Center entfernt. „Wir singen Lieder und wir beten, und obwohl ich überhaupt nicht gläubig bin, hilft mir das sehr“, sagt Reiter. Das jährliche Gedöns am 11. September hingegen sagt ihm gar nichts.

„Da reden sie von Trauer. Aber Amerikaner können gar nicht wirklich trauern“

Dabei hat dieser Tag bei ihm etwas bewirkt, das ihn bis heute verwundert und erschreckt. „Ich habe an dem Tag in meiner Schule an der 66. Straße unterrichtet. Ich habe durchs Fenster gesehen, wie das erste Flugzeug in den Nordturm raste. Ich habe sofort gedacht, jetzt ist Krieg. Und dieses Gefühl ist seitdem nicht mehr weggegangen.“

Anders als bei den meisten Amerikanern löst Krieg bei Reiter sehr konkrete Vorstellungen aus. „Ich war zehn Jahre alt, als die Gestapo kam“, erinnert er sich. „Wenn ich seither gegen jemanden kämpfe, kämpfe ich immer noch gegen sie.“ Wegen dieser schlimmen Erfahrung gibt es für Edmund Reiter keine Grautöne im Leben, es gibt nur die oder ich, Leben oder Tod. Das fängt im Privaten an – „ich verstehe mich entweder sehr gut mit jemandem oder wir trennen uns“ – und das hört mit der Politik auf – „ich habe seit sechs Jahren ganz stark das Gefühl, dass wir zusammenrücken und um unser Leben kämpfen müssen, als Amerikaner und als Juden.“

Diese Reaktion, die Reiter selbst als „völlig irrational“, aber übermächtig beschreibt, hat sein Leben verändert. „Ich habe viele Freunde verloren“, sagt er. Beispielsweise, weil er den Irakkrieg befürwortet – er, der seit den 50er-Jahren überzeugter Antiimperialist und bekennender Sozialist war. Auch wenn es um Israel geht, sei er seither um 180 Grad umgeschwenkt: „Ich war vorher ein eiserner Befürworter der palästinensischen Sache. Doch seit 9/11 geht es für mich in der Welt nur noch um das Überleben des eigenen Stammes.“

Damit liegt der „in sozialen Fragen noch immer links“ denkende Reiter zwar nun auf einer Linie mit den Konservativen. Doch eines unterscheidet ihn noch immer von Bush und Cheney: Die Politiker unterschlagen den Ernst des Tötens und Getötetwerdens in ihren Festreden, wenn sie ihn denn selbst überhaupt begreifen. Reiter, der sich freiwillig für den Koreakrieg gemeldet hatte, um „für den Notfall das Töten zu lernen“, wie er sagt, kennt hingegen diesen Ernst genau. SEB

Als Lance Boge im Sommer umzog, erschrak er, wie viel Kram sich in seinem Arbeitszimmer angesammelt hatte. Der Architekt, der in einem Büro an der Wall Street, ganz in der Nähe von Ground Zero, arbeitet, hatte nach dem 11. September 2001 bergeweise absonderliche Dinge gebastelt: Kästen aus Plexiglas in allen möglichen Größen, Bilder von Flugzeugen, Collagen aus Todesanzeigen. „Das ist meine eigene neurotische Art, mit dem 11. September umzugehen“, erklärt er. „Ich muss etwas zum Anfassen haben, etwas, in dem sich Gedanken und Gefühle konkretisieren und das ich dann wegstellen kann.“

Es ist eine einsame Form der Reflexion, die Boge da pflegt, und das frustriert den Mittfünfziger gehörig. Doch für die Fragen, die der 11. September in ihm aufgeworfen hat, gibt es in Amerika derzeit kein Forum. „Die politische Korrektheit erstickt alles“, klagt er. Zum Beispiel rede niemand darüber, dass Amerika einen religiösen Krieg führt. Weil es nicht politisch korrekt sei zuzugeben, dass man gegen den Islam kämpft. Insofern stelle auch niemand die Frage, ob es Sinn macht, einer Weltreligion den Krieg zu erklären. Oder der Gedanke, Ground Zero nicht wieder zu bebauen und zu warten, bis man den 11. September wirklich verarbeitet hat, sei bis heute tabu. Vielmehr sei es patriotische Pflicht gewesen, zu zeigen, dass man sich nicht unterkriegen lässt.

Entsprechend wenig kann Boge auch mit den offiziellen Feierlichkeiten zum heutigen Jahrestag anfangen. Damit, was der 11. September für ihn persönlich bedeutet, hat die ganztägige Verbreitung von nationalistischem Pathos nicht des Geringste zu tun.

„Ich denke an den 11. September, wenn ich von meiner Dachterrasse aus einen Hubschrauber sehe. Ich denke unweigerlich, dass der jetzt ins Empire State Building fliegt“, sagt er. „Und ich denke bei meiner Arbeit an den 11. September, wenn ich mir überlege, ob man wohl jemals wieder zwei Türme in selber Höhe wird nebeneinander bauen können.“ Die Politikerreden am Ground Zero helfen ihm dabei jedoch nicht im Mindesten.

„Der Tenor ist doch immer noch, dass wir das Recht haben, zurückzuschlagen“

Für Boge sind die Zeremonien, wie sie in den letzten fünf Jahren stattgefunden haben, ähnlich wie der Irakkrieg vor allem ein Ausdruck der Unbeholfenheit und des Mangels an Reflexion. Genauso wie die hastige Neubebauung des Geländes. Die tieferen Fragen, die New Yorker Intellektuelle wie er sich stellen, blieben bei all diesem hektischen Aktivismus ungehört. So hätte man, findet Boge, die Zerstörung des World Trade Center zum Anlass für eine Diskussion nehmen können, wie man sinnvoll Konzernbauten in Städte integriert. Das World Trade Center habe das Geschäftsleben in seinem Inneren brutal vom Leben der Stadt abgetrennt. Aber statt diesen Fehler zu überdenken, wurde er bei der Neuplanung wiederholt – der neue Komplex wird genauso isoliert sein wie der alte.

Eine weitere Debatte, die für Boge seit sechs Jahren zu kurz gekommen ist, ist die um ein wirklich angemessenes Mahnmal. „Auf dem Dach von diesem Gebäude da liegen bis heute Überreste von Menschen“, sagt er und weist auf ein 40-stöckiges Bürohaus. „Da stellt man sich doch die Frage, wo denn der Ort des Unglücks und der Trauer anfängt und wo er aufhört und wo das Mahnmal genau hin soll.

Vielleicht wäre ja eine Website das angemessene Mahnmal.“ All dies sind Dinge, die laut Boge hätten debattiert werden sollen, bevor man, von Plattitüden und Klischees geleitet, Fahnen schwenkt, in den Krieg zieht und das Gelände mit kommerziellen Bürotürmen zuknallt. Zwanzig Jahre, findet er, seien ein angemessener Zeitraum für die Bewertung des 11. September gewesen, bevor man irgendetwas tut. Doch so viel Geduld hat Amerika nicht. Und New York schon gar nicht. SEB