: Augenaufschlag einer Leiche
FILMFESTIVAL In San Sebastián wurden viele neue Filme aus Lateinamerika gezeigt. Beeindruckend: eine Politgroteske aus Kolumbien und eine „Madame Bovary“-Adaption
VON THOMAS ABELTSHAUSER
Ein Maisfeld irgendwo in der kolumbianischen Provinz, jemand hat eine Schneise hineingemäht. Verwundert folgt der Bauer dem Weg und steht plötzlich vor 50 zu einem Haufen gestapelten Leichen. Hingerichtet von Unbekannten. Sein Versuch, die Behörden über den Fund zu informieren, ist am Tag der Bürgermeisterwahlen alles andere als einfach. Die Kleinstadt ist mit Vermisstenfotos plakatiert, doch dafür fühlt sich in Carlos Morenos bitterböser Politgroteske „Todos tus muertos“ (Alle deine Toten) niemand verantwortlich. Ein Lastwagen wird organisiert, die Toten werden aufgeladen, wieder abgeladen, ein morbid-surreales Hin und Her, bei dem die ein oder andere Leiche angesichts der Zustände auch mal die Augen aufschlägt und daran gemahnt, dass die Toten niemals so ganz gehen, auch wenn man sie am liebsten verscharren würde.
„Todos tus muertos“ war einer der stärksten lateinamerikanischen Beiträge zum Filmfestival im baskischen San Sebastián, das am Wochenende zu Ende ging. Das lateinamerikanische Kino bildet traditionell einen Schwerpunkt hier, vor allem in der Sektion Horizontes Latinos, wo in diesem Jahr 13 Filme präsentiert wurden. Zwei weitere Filme fanden sich im offiziellen Wettbewerb. Neun Tage lang ließ sich so die Bandbreite des aktuellen lateinamerikanischen Kinos abseits des Mainstreams entdecken. Das Festival zeigt aber nicht nur Premieren, sondern fördert auch die Produktion lateinamerikanischer Autorenfilme. Bereits zum 20. Mal fand in diesem Jahr „Cine en construcción“ statt, eine Kooperation mit dem lateinamerikanischen Filmtagen in Toulouse, die noch nicht fertig gestellte Projekte in der Postproduktion unterstützt, die danach regelmäßig zu den großen Festivals wie Cannes und Berlin eingeladen werden, aber auch nach San Sebastián zurückkehren, wie etwa das mexikanische Autisten-Drama „Entre la noche y el día“ (Zwischen Tag und Nacht) oder der Metagangsterfilm „Asalto al cine“ (Angriff aufs Kino) über den Plan von vier Jugendlichen, gemeinsam ein Kino auszurauben.
Herausragend war in diesem Jahr neben „Todos tus muertos“ ein ganz anders gelagerter, nicht minder faszinierender Film: „Las razones del corazón“ (Die Gründe des Herzens) des mexikanischen Altmeisters Arthur Ripstein, der bereits zweimal die Goldene Muschel des Festivals gewonnen hat. In seinem neuen Werk verpflanzt er Gustave Flauberts „Madame Bovary“ ins heutige Mexiko, entblättert die Vorlage von allen Fantastereien und zeigt eine moderne Frau, die mit ihren Ängsten konfrontiert und schlicht und ergreifend vom Leben enttäuscht ist. Der treusorgende Ehemann ist nicht das, was sie sich erhofft hatte, für ihre Tochter fehlt ihr jeder Mutterinstinkt und der kubanische Liebhaber in der Dachwohnung ist von ihrem Liebes- und Lebenshunger überfordert.
Das in Schwarz-Weiß fotografierte Drama spielt komplett im Mietshaus, in der zugemüllten Wohnung der Frau, im Flur und auf dem Dach, wo der kubanische Musiker sein kleines Zimmer hat. Das habe vor allem mit dem geringen Budget zu tun, erzählt Ripstein bei der Premiere. Seine Meisterschaft liegt nicht zuletzt darin, aus einem solchen Mangel ein surreal klaustrophobisches Melodram und vor allem großes Kino mit einer komplexen, widersprüchlichen Heroine zu machen.
Auf engstem Raum
Ebenfalls auf engstem Raum, wenn auch in ständiger Bewegung, spielt „Las Acacias“ (Die Akazien) des Argentiniers Pablo Giorgelli. In langen, kontemplativen Einstellungen entfaltet sich im Fahrerraum eines Trucks ein Kammerspiel um einen stoischen Lastwagenfahrer, der eine junge Mutter und ihr Baby von Asunción nach Buenos Aires mitnimmt. Während der Laster brummt und die triste Landschaft vorbeizieht, taut der Fahrer ganz allmählich auf. Viel mehr passiert dann auch nicht in dem bereits in Cannes mit der Camera d’Or für das beste Erstlingswerk ausgezeichneten und nun noch mit dem Horizontes-Award prämierten Werk. Die Jury setzte damit ein klares Zeichen für die Filmsprache des Festivalautorenkinos, dessen ungewohnte Langsamkeit und detailliertes Beobachten allerdings immer mehr zur Konvention zu verkommen drohen.
Auch Oscar Godoy lässt sich in „Ulises“ viel Zeit, von einem peruanischen Immigranten in Chile zu erzählen, folgt ihm auf seiner Suche nach Arbeit und einem Platz in einem unbekannten Land. „Ulises“ heischt nicht nach Mitleid, sondern zeigt einen stolzen Mann, der mehr erwartet als die bloße Existenzsicherung. Am Ende freilich steht der gelernte Lehrer wie andere im Schlachthaus und zerteilt Kälber, eine Szene, die in ihrer banalen Brutalität an Fassbinders „In einem Jahr mit 13 Monden“ erinnert.
Um gestörte Familienverhältnisse geht es im zweiten Wettbewerbsfilm, der Tragikomödie „Los Marziano“. Darin erzählt die argentinische Regisseurin Ana Katz milde-satirisch anhand zweier ungleicher Brüder, die seit Jahren kein Wort gewechselt haben und zu einem Wiedersehen gezwungen werden, auch von den Gräben innerhalb der argentinischen Gesellschaft. Der eine lebt mit seiner Familie in einer gated community inklusive Golfanlage, wo die Unterschicht nur zum Putzen oder für Gartenarbeiten hineinkommt, der andere ist ein etwas lethargischer Künstler, der allen seit Jahren auf der Tasche liegt. Ein paar smarte Einfälle, wie die versteckten Löcher, die Unbekannte in die Golfanlage buddeln und damit den Kontrollzwang der Bewohner buchstäblich untergraben, reichen allerdings nicht, die Parabel über 90 Minuten zu tragen.